Indogermanisch?

Die nachfolgende Liste beinhaltet einige Ähnlichkeiten zwischen altgriechischen Wörtern und Wörtern moderner europäischer Sprachen. Solche Ähnlichkeiten sind im Laufe der Übersetzung der Kantharos-Lektionen immer wieder aufgefallen.

Ein Sprachwissenschaftler mit Professorentitel hat jedoch 2002 die Liste durchgesehen und festgestellt, dass die Spekulationen über eine gemeinsame Herkunft fast alle falsch sind. Wer sich ernsthaft für die Etymologie im Allgemeinen und die des Altgriechischen im Besonderen interessiert sei auf die Literaturliste Literatur zur Etymologieoder Beispiele zu Grimms Gesetz Gesetzmäßige Lautverschiebungen vom Griechischen zum Deutschenweiter unten auf dieser Seite verwiesen.

  1. o alj, aloj = das Salz
  2. h aix, aigoj = Ziege => die Gaas, Gaasbock?
  3. macomai = kämpfen => Macho?
  4. o lukoj = Wolf: deutsches "Luchs"?
  5. to poton = Trank. Hat das etwas mit dem deutschen "Pott" zu tun, denn man trinkt ja auch aus einem Pott?
  6. mega oimwzw = laut jammern. Hat das etwas mit "motzen" zu tun? (Lesebuch, Seite 50)
  7. h damar = die Gattin (Lesebuch, Seite 116), klingt wie Dame
  8. Delfi = tief eingschnittene Schlucht (Lesebuch, Seite 121), vergleiche dazu das englische "to delve" = graben
  9. enioi = einige
  10. Poikilh = bunt (sprich: polikilä). Deutet "kilä" auf das englische "colour" hin?
  11. aggellw = melden. Gibt es hier eine Verbindung zum "gellenden" Schreien?
  12. hrxa = Verbalstammform Aorist Akt.Pass. (Med.) von arcw = herrschen
  13. bainw = gehen. Gibt es hier eine Verbindung zum "Bein", mit dem man ja auch geht?
  14. ballw = werfen. Gibt es hier eine Verbindung zum "Ball", den man ja wirft?
  15. esqiw = essen
  16. kalew = rufen. Gibt es hier eine Verbindung zum rheinischen "kallen" = reden, plappern, erzählen?
  17. kakoj = schlecht, schlimm, böse. Gibt es eine Verbindung zu "Kacke"?
  18. pino = trinken. Gibt es hier eine Verbindung zum englischen "pint" (=Flüssig-Maßeinheit), zum polnischen "piwo" (=Bier) und zur deutschen "Pinte"?
  19. plattw = schlagen. Gibt es eine Verbindung zum "plätten", was ja auch manchmal im Sinne von jemanden niedermachen verwendet wird?
  20. Maus =
  21. Tür = h qura (hä thüra)
  22. Qrhnew (sprich träneo) = beweinen => Träne
  23. Tochter = h qugathr
  24. Vater = o pathr
  25. Mutter = h mhthr
  26. essen = esqiw (estijoh)
  27. galern (Hessisch für "albern, komisch sein) = geloioj
  28. Das Tier = to qhrion (to thärion)
  29. Vater = o pathr (ho patär)
  30. ohne = aneu (aneju)
  31. loidoreo (=lästern, beschimpfen) => Leumund
  32. fauloj (minderwertig, schlecht) => faul
  33. o leon = der Löwe
  34. nun (sprich "nün") = jetzt => nun
  35. Kisth (sprich: Kistä) => Kiste
  36. Qhkh (sprich: Täkä) => Theke, Ablage
  37. Idiwthj (sprich: idiohtäs) => Eigenbrötler, Privatmann => Idiot
  38. olos (sprich: holos) => "ganz", wie im Englischen "whole"
  39. macaira (sprich: machaira) => Messer
  40. prattein => Niederländisch "praten" = reden?

Grimms Gesetz

Grimms Gesetz sagt mit Einschränkungen etwas über Veränderungen von Lauten vom Altgriechischen hin zum Deutschen, hier einige Beispiele:

Griechisch

 

Deutsch

p t k

=>

f d h

ph th ch

=>

b t g

b d g

=>

pf z k

attisches langes e (Eta)

=>

deutsches langes u

Literaturliste zur Etymologie

  • Frisk, Hjalmar. 1973-1991. Griechisches etymologisches Wörterbuch. 2./3 Aufl. Heidelberg: Carl Winter.
  • Chantraine, Pierre. 1968-1980. Dictionnaire étymologique de la langue grecque: Histoire des mots. 4 Bde. Paris: Klincksieck. [Nachdruck in 2 Bdn, A-K 1990, L-O (Omega) 1984.]
  • Kluge, Friedrich. 1995. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 23. Aufl. von Elmar Seebold. Berlin: Walter de Gruyter.
  • Onions, C. T. 1966. The Oxford dictionary of English etymology. Oxford: Clarendon Press (Nachdruck 1969).

Das Baskische als Ur-Europäische Sprache?

Einen äußerst gut lesbaren, allgemeinverständlichen Artikel über die vor-indogermanische Sprache der Europäer während der Eiszeit schrieben Elisabeth Hamel und Theo Vennemann in "Spektrum der Wissenschaft", Mai 2002, Seite 32 bis 40. Die Grundthese lautet, dass während der letzten Eiszeit die europäische Urbevölkerung von den Eismassen unter anderem auf ein Rückzugsgebiet im Baskenland zurückgedrängt worden war. Damals, vor rund 20.000 Jahren, entstanden auch die berühmten Höhlenmalereien in Südfrankreich und Nordspanien. Die Bewohner sprachen eine Urform des Baskischen. Nach dem Rückzug der Eismassen besiedelten vor allem die Nachfahren dieser Urbasken Europas Norden erneut. Spuren dieses Baskischen finden sich heute, so der Artikel, in vielen europäischen Ortsbezeichnungen. Die indogermanische, oder besser indoeuropäische, Sprachfamilie wurde erst später von Völkern aus dem Osten nach Europa hereingetragen.

1. Allgemeiner Längsschnitt vom Indogermanischen zum Neuhochdeutschen

1.1 Indogermanisch

Das Ur-Indogermanische ist schätzungsweise 5000 - 3000 v.Chr. entstanden, über sein Ursprungsgebiet gibt es keine Klarheit. Die Indogermanen sind aber vermutlich die Träger der Kurgan-Kultur (sog. "Schnurkeramiker"), die um 5000 v.Chr. nördlich des Kaspischen Meeres existierte. Anhand von Gemeinsamkeiten im Vokabular für bestimmte Pflanzen und technische Errungenschaften und Unterschieden im Vokabular für andere Vegetation und Errungenschaften läßt sich dieser Ursprung ungefähr zeitlich und geographisch eingrenzen. So sind die Bezeichnungen für verschiedene Bäume von Einzelsprache zu Einzelsprache sehr variat, was auf Steppenbewohner schließen läßt. Viele Bezeichnungen für Vieh, Saat, Ernte, Metalle, Pferd und Wagen stimmen weitgehend überein, so daß mit archäologischen Methoden ein ungefährer Zeitpunkt des Einsetzens dieser Kultur bestimmt werden konnte.

Direkte Belege dieser Sprache gibt es nicht, sie kann nur durch den Vergleich der später daraus entstandenen Sprachen erschlossen werden.

Die Untersuchung der Gewässernamen im heutigen Verbreitungsgebiet führt zu einer Untergruppe, die man alteuropäisch nennt. (Die andere Gruppe nennt man Indoiranisch). Diese Sprachen haben weitgehende Gemeinsamkeiten in den Namen für Gewässer (welche sich aus frühen Sprachstufen weitgehend unverändert bis in unsere Zeit erhalten haben), diese alteuropäische Hydronymie zeigt sich an Gewässernamen mit *al- (< *ol-/*el-) oder *sal- (Elbe, Aller, Ala, Elz, Als, Allia; Saale, Sella, Salisa, etc.) und einigen anderen idg. Wurzeln.

Das läßt darauf schließen, daß diese Namen nicht einzelsprachlichen Ursprungs sondern aus einer voreinzelsprachlichen Periode sind.

Ein anderes, früher gebräuchliches, Einteilungskriterium ist der Anlaut des Numerals 'hundert' (idg. *kmtom). Dies führt zur Aufteilung in Kentumsprachen und Šatemsprachen, je nachdem, ob es sich um einen Plosiv oder um einen Frikativ handelt. (das dt. [h] ist ein Produkt der 1. Lautverschiebung). Diese Aufteilung ist aber insofern unfruchtbar, als daß sie durch keine parallelen Erscheinungen gestützt wird, und somit nur extrem geringe Aussagekraft über die Struktur der durch sie zusammengefaßten Sprachen hat.

Die Kultur der Schnurkeramiker muß sich vom Schwarzen Meer aus über weite Teile Europas ausgebreitet haben und dabei andere Völker absorbiert haben, ohne daß deren Sprache(n) so viele Reflexe im Idg. hinterließen, wie beispielsweise im Industal oder im Mitelmeerraum.

Im Ostseeraum (Baltikum) entstand eine blühende Kultur der sog. Streitaxtleute, die ungefähr von 1500 bis 500 v.Chr. existierte. Sie muß großräumig homogen und mobil gewesen sein, da die sprachlichen Entwicklungen zum Germanischen hin im gesamten Gebiet nahezu uniform sind.

1.2 Vom Indogermanischen zum Germanischen

Die ältesten Germanischen Zeugnisse sind durch römische Autoren überliefert (Cäsar, Tacitus, Plinius d.Ä.). Wörter, die sie wiedergeben, zeigen einen Sprachzustand, der als Gemeingermanisch (auch: Urgermanisch) bezeichnet wird, in dem also alle Germanen eine gemeinsame Sprache hatten; eine Auseinanderentwicklung muß demnach erst später stattgefunden haben.

Originäre Zeugnisse sind Runeninschriften, u.a. der Helm von Negau (unklar, zwischen 300 v.Chr. und 0) und das goldene Horn von Gallehus (um 400 n.Chr.; Inschrift: Ek HlewagastiR HoltijaR horna tawido, 'Ich HlewagastiR aus Holt das Horn verfertigte'); oft stammen die Belege zwar aus Zeiten, als die germ. Stämme bereits unterschiedlich sprachen, jedoch ist der Sprachstand in den (meist kultischen) Inschriften archaischer und erlaubt so Rückschlüsse auf das Gemeingermanische.

Folgende Erscheinungen sind die hauptsächlichen Unterschiede zwischen Germanisch und Indogermanisch, bzw. kennzeichnen die Entwicklung zum Germanischen, die im zweiten bis ersten vorchristlichen Jahrtausend stattgefunden haben muß:

1.2.1 Lautverschiebung

(sog. 1. oder germanische Lautverschiebung) im System der Verschlußlaute:

a) [p, t, k] à [f, þ, c ] stimmloser Plosiv à stimmloser Frikativ
b) [b, d, g]
à [p, t, k] stimmhafter Plosiv à stimmloser Plosiv
c) [bh, dh, gh]
à [b, ð,g ] (<b d,g>) stimmhafter behauchter Plosiv à stimmhafter Frikativ

Beispiele: idg. *peku > ahd. fisk aber lat. piscis.

Diese Verschiebungen fanden nicht in sog. gedeckter Stellung statt, wenn entweder schon im Idg. dem zu verschiebenden Laut [s] vorausging (lat.: spuo, ahd.: spiwan) oder wenn im Idg. zwei Verschlußlaute aufeinanderfolgten (dann wurde nur der jeweils erste verschoben: lat.: noct, got.: naht).

Die stimmlosen Frikative wurden inlautend stimmhaft, wenn der Wortakzent im Idg. nicht auf dem Vokal davor lag: [s, f, Þ, c] à [b, ð,g, z] ([z] entsteht als neues Phonem). Diese Erscheinung wurde nach dem dän. Sprachwissenschaftler Karl Verner Vernersches Gesetz genannt. Grimm, der das Phänomen noch nicht erklären konnte, nannte es grammatischen Wechsel.

Anmerkung: Zum Vergleich wird hier Latein herangezogen, das die entspr. germ. Entwicklungen nicht mitgemacht hat und das synchron mit dem germ. und später dem ahd. existierte. Zu beachten ist dabei, daß Latein einer anderen Familie angehört und nicht in direkter Linie mit dem Germ. verwandt ist.

1.2.2 Festlegung des freien Wortakzents

(vgl. lat. Róma, Románus, Romanórum, Romanorúmque; immer vorletzte Silbe betont, nicht immer die selbe) auf die erste bedeutungstragende Silbe (= das erste Grundmorphem); sogenannte Initialbetonung; vermutlich aus einem nicht-idg. Substrat, mit dem die Germanen in Kontakt gekommen sein müssen.

1.2.3 Abschwächung der unbetonten Nebensilben

Sie vereinfachte das komplizierte idg. Flexionssystem erheblich, und förderte so den analytischen Sprachbau. So fallen beispielsweise von den 8 idg. Kasus der Ablativ, Lokativ und Instrumental mit dem Dativ zusammen, der Vokativ fällt zusammen mit dem Nominativ, so daß vier Kasus übrigbleiben. Der Dual schwindet allmählich.

Vergleiche hier auch die Fortsetzung dieser Entwicklung bei ahd. > mhd.

1.2.4 Zusammenfall von Vokalen

die Kurzvokale [a,o,e] fallen zusammen zu [a]; die Langvokale [a:, o:] fallen zusammen in [o:]; [ei] à [i:]

1.2.5 Ersetzung der sonantischen Liquide und Nasale

idg. [l, r, n, m] wurden zu germ. [ul, ur, un, um]. (idg. *pl no 'voll' > got. fulls).
Anmerkung: Laut IPA werden Sonanten mit einem daruntergestellten Punkt gekennzeichnet. Ich verwende aus Gründen der Darstellbarkeit Unterstriche.

1.2.6 Herausbildung konsonantischer (schwacher) Flexionen

1.2.6.1 Deklination:

im Kontrast zu idg. vokalischen (starken) Deklinationen (Substantiva und Adjektiva); z.B. n-Klasse.

1.2.6.2. Konjugation:

Herausbildung eines schwachen Präteritums, das ohne Ablaut, aber mit Dental-Suffix (aus enklitischem tun)gebildet wird; zugleich wird der Ablaut in den starken Formen ausgebaut und bekommt morphologische Bedeutung. Wegfall der synthetischen Tempora (z.B. Futur, Aorist), Neubildung analytischer Formen.

1.2.7 Syntax

Umstellung des Satzbauplans von SOV auf SVO In Resten z.B. im Hildebrandslied findet sich noch archaich-poetisch SOV: sunufatarungo iro saro rihtun; ansonsten ist die Syntax bereits umgestellt

1.3 Exkurs: Germanische Stämme und ihre Sprachen

Üblicherweise werden die Germanischen Stämme in drei große Gruppen unterteilt: Nord-, Ost- und Westgermanen. Die wichtigsten Völker der einzelnen Gruppen sind folgende (in Klammern: Sprachen der betr. Volksgruppen):

a) Nordgermanen: Wikinger, Normannen (altnordisch)
b) Ostgermanen(†): Goten, Vandalen, Gipiden, Rugier, Burgunden; (Gotisch, etc.; Rudimente als Lehnwörter erhalten, Krimgotisch noch im 18. Jh. belegt.)
c) Westgermanen:
c1) Nordseegermanen: Friesen (altfriesisch), Angeln (altenglisch), Sachsen (altsächsisch), Jüten; bei Plinius/Tacitus als Ingwäonen bezeichnet
c2) Weser-Rhein-Germanen: Franken; Istwäonen
c3) Elbgermanen: Langobarden (†), Sweben, Alemannen, Hermunduren (†), Baiern; Ermionen/Hermionen

Die Stämme unter c2 und c3 lassen sich auch als Südgermanen zusammenfassen. Die Regionalbezeichnungen können teilweise verwirren, wenn beispielsweise die Baiern als Elbgermanen klassifiziert werden. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, daß es sich erstens um Großräume handelt, und zweitens das ursprüngliche Siedlungsgebiet der Stämme gemeint ist. Massenhafte Migrationsbewegungen unter den germanischen Stämmen, Stammesteilen und Stammesverbänden - die Völkerwanderung - führen einerseits zu einer Durchmischung, andererseits zu einer Aufspaltung in einzelne Stämme. So ist für die Jahrhunderte nach der Zeitenwende keine gemeinsame Germanische Sprache mehr anzusetzen, sondern bereits einzelne Stammessprachen.

1.4 Vom Germanischen zum Althochdeutschen

Ausgehend von den Elbgermanen fand eine Entwicklung statt, die für die Entstehung der deutschen Sprache entscheidend ist: die zweite (oder althochdeutsche) Lautverschiebung. (Eine Ausbreitung von S nach N wurde lange angenommen, jedoch ist (nach Schützeichel) diese Entwicklung an mehreren voneinander unabhängigen Orten sowohl im elbgermanischen wie auch im rheinisch-fränkischen Raum ausgegangen. Diese Lautverschiebung, besser: Lautverschiebungen, fanden jedoch nicht in allen Gebieten mit gleicher Ausprägung statt, so daß sich die Stammessprachen zwar gemeinsam weiter- dennoch aber auseinanderentwickelten.

Folgende elf Veränderungen charakterisieren den Übergang zum Althochdeutschen:

1.4.1 Lautverschiebung

1.4.1.1 Althochdeutsche Lautverschiebung (sog. 2. Lautverschiebung)

a) Tenuesverschiebung:

postvokalisch [p, t, k] à [ff, ss, hh (=x)] Plosiv à Doppelfrikativ
initial, vor Geminata, postkonsonantisch [p, t, k]
à [pf, ts, kx] Plosiv à Affrikate

Keine Verschiebung bei [sp, st, sk, ft, ht, tr], z.B. opan > offan; watar > wazzar; tekan > zeihhan; plegan > pflegan; holta > holz; korna > kchorn
Anmerkung: Nach IPA werden Affrikaten durch einen Bogen verbunden. Dieser Bogen entfällt hier, da er kein ASCII-Zeichen ist.

b) Medienverschiebung

[b, d, g], [b, ð,g ] > [p, t, k], [b, t, g] z.B. dag > tag

c) Wandel [þ] > [d]; germ. *broþar > as. brothar / ahd. bruoder

1.4.1.2 Zu den Isoglossen der 2. Lautverschiebung

Diese Konsonantenverschiebung ist die tiefgreifendste Veränderung in der Geschichte der deutschen Sprache. Sie führt zu der Herausbildung der verschiedenen Mundarten des Deutschen. Die Isoglossen der diversen Veränderungen teilen den deutschen Sprachraum auf. Hauptlinie dabei ist die "maken-machen"-Linie, die die Nordgrenze der 2. Lautverschiebung markiert. Nördlich dieser Linie wird Niederdeutsch (bzw. wurde Altsächsisch) gesprochen, südlich davon Hochdeutsch bzw. Althochdeutsch. Diese Linie quert bei Benrath (nahe Düsseldorf) den Rhein. Deswegen wird sie Benrather Linie genannt.

Das Hochdeutsche wird durch eine weitere Hauptlinie unterteilt, welche die p>pf-Verschiebung anzeigt. Sie wird nach dem Ort der Rheinüberquerung Speyrer Linie genannt. Nördlich von ihr wird Mitteldeutsch gesprochen (Westmitteldeutsch pund, Ostmitteldeutsch fund), südlich von ihr Oberdeutsch (pfund).

Die k>kch-Verschiebung fand nur im südalemannischen Bereich statt. ("Kind-Kchind-Linie").

Diese Isoglossen spiegeln den Stand im 19. Jahrhundert wieder, als Wenker die Erhebungen für den Deutschen Sprachatlas machte. Die Linien haben sich inzwischen teilweise verlagert. Der Berlin-Schlenker in der Benrather Linie ist ein Indiz für starke hochdeutsche Einflüsse in Berlin aufgrund seiner kulturellen und politischen Bedeutung.

1.4.2 Westgermanische Konsonantengemination

Verdopplung von Konsonanten vor [j], seltener [w, l, r]. got. bidjan ~ ahd. bitten; germ. *kunja > got. kuni / ahd. kunni ('Sippe, Familie')

1.4.3 Monophthongierung von germ. ai und ou

[ai] > [e:] vor [r, h, w]; [ou] > [o:] vor Dentalen [d, t, s, z, n, r, l] und germ. [h] daher ahd. ouga, ora aber got. augo, auso

dadurch entsteht ein zweites [e:] und [o:], das jeweils dem alten germ. [e:] bzw. [o:] im Phonemsystem entgegen steht. Deshalb:

1.4.4 Diphthongierung von germ. [e:] und [o:]

[e:] > [ie], [o:] > [uo]; z.B. got./as. her, ahd. hier/hiar; as. brothar / ahd. bruoder; lat. tegula wurde zum ahd. Lehnwort ziagal.
Anmerkung: Nach IPA werden Dipththonge durch einen Bogen verbunden. Dieser Bogen entfällt hier, da er kein ASCII-Zeichen ist.

1.4.5 i-Umlaut

[i, i:, j] in der Folgesilbe bedingen folgende Lautveränderungen:

a > e (ä) (gast - gesti)
a: > æ (ahd. mâri mhd. mære 'Erzählung')
u > ü (ahd. kussen mhd. küssen)
u: > iu [y:] (ahd. hlûten mhd. liuten 'läuten')
o: > œ [œ:] (ahd. skôni mhd. schœne )
ou > öu (ahd. loufit mhd. löufet)
uo > üe (ahd. guoti mhd. güete)

Hier zeigen sich zwei unterschiedliche Schichten des Umlauts. Der erste Typ, der sog. Primärumlaut, in a > e, der sich auch in der ahd. Orthographie niederschlägt, und den anderen, der erst in der mhd. Schreibung Eingang findet. Dies legt nahe, daß die Umlauterscheinungen zeitlich gestaffelt eintraten. Solange die Bedeutungsunterscheidung noch durch die Endsilben gewährleistet war, konnten daher Formen wie sconi (gesprochen scœni) und scono noch gleich geschrieben werden. (Im mhd. ändert sich das durch die Endsilbenabschwächung...)

1.4.6 Kombinatorischer Lautwandel

im gesamten Westgerm.: (sog. Brechung)

germ. e > i vor i,j,u, Nasal+Konsonant
germ. i > e vor i,j,u, Nasal+Konsonant
germ. u, idg.
[l, r, n, m] und germ. [ul, ur, un, um] > o vor a,e,o
germ. eu > io vor a,e,o; iu vor i,j,u

Das zeigt sich im ahd. Flexionssystem: z.B. nimu, nimis aber nement (nehme, nimmst, sie nehmen)

1.4.7 Nasalschwund mit Ersatzdehnung

germ. *þanhto > dâhta ('dachte'); *þunhto > dûhta ('dünkte'), *sinh- > sîhan ('seihen').

1.4.8 Entwicklung der Artikel

aus Demonstrativa, da die Kasuskennzeichnung uneindeutig wurde (vgl. ahd. > mhd.).

1.4.9 Verbflexion

Herausbildung eines analytischen Passivs und Futurs.

1.4.10 Übergang zur Schriftlichkeit

Erstmals wird in ahd. Zeit auch das Deutsche geschrieben. Zuvor war ausschließlich Latein Schriftsprache. Neben kirchlichen entstehen auch literarische Texte.

1.4.11 Literatur

Ablösung des germ. Stabreims durch den Endreim (aus der lat. Dichtung).

1.5 Vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen

Genauso wenig, wie es ein einheitliches Althochdeutsch gab, gab es ein Mittelhochdeutsch als standardisierte überregionale Verkehrs- und Schriftsprache. Dennoch bestanden Gemeinsamkeiten, die, abstrahiert, zu einem angenommenen Mittelhochdeutschen rekonstruiert werden.
Folgende Erscheinungen kennzeichnen den Unterschied zwischen ahd. und mhd.:

1.5.1 Die Abschwächung unbetonter Nebensilben

ist in dieser Phase die wichtigste Veränderung, denn sie hat großen Einfluß auf die Morphologie und die Phonologie. Zum einen verringert sich das Phoneminventar in den Nebentonsilben, zum anderen wird das Flexions- und Derivationssystem vereinfacht bzw. radikal umgestellt:

a) Zusammenfall der phonologisch konditionierten Vorsilben bi-, ga- ~ gi-, za- ~ zi- ~ ze-, ur- ~ ir-, fur- ~ fir zu be-, ge-, ze-, er- und ver-, in denen der sog. Indifferenzvokal [e] steht. (Anmerkung.: hier müßte das IPA-Zeichen "umgedrehtes e" stehen, das aber kein ASCII-Zeichen ist.)
b) Zusammenfall der verschiedenen Flexionsendungen: ahd. leitis, leitês, leitos, leitîs (2.SG. präs, konj.präs., prät., konj.prät.) werden alle zu leites(t). Ähnlich ist es in der Deklination.
c) Wegfall unbetonter Mittelsilben: ahd. hêriro > mhd. herre. ahd. salida > mhd. s
Q lde 'Heil, Glück'. (hier zeigt sich: erst Umlaut, dann Wegfall!)
d) Es wurden neue Wortbildungsmittel notwendig: im ahd. konnte ein Adj. Durch substantiviert werden. Seit dem Mhd. ist dazu eine Nachsilbe notwendig, wie etwa -heit, -igkeit > -keit, -ung.

1.5.2 Der Umlaut als Pluralkennzeichen

ist davon ebenfalls betroffen: Während er im ahd. rein phonologisch bedingt ist, bekommt er im mhd. eine Funktion in der Morphologie, um den Wegfall der alten Endungen auszugleichen. (bruoder - brüeder)

1.5.3 Syntaktische Umwälzungen

Durch den Endsilbenverfall sind beispielsweise das verstärkte Hinzutreten von Personalpronomina und Artikeln (aus Hilfskonstruktionen mit Demonstrativa und Numerals): ahd. hilfu > mhd. ich hilfe, ahd. zungun, zunguono, zungom, zungun > mhd. die zungen, der zungen, den zungen, die zungen. (Bei Fem.Pl. völliger Zusammenfall) notwendig. Der analytische Sprachbau wird weiter verstärkt.

1.5.4 Palatalisierung von [s] > [ò ] / _K

a) mit Wegfall von K [sk] > [ò] (<sk> > <sch>) scriban > schriben
b) ohne Wegfall von K [sl] > [
òl] (<sl> > <sch>) slange > schlange
[sm] > [
òm] (<sm> > <schm>) smal > schmal
[sn] > [
òn] (<sn> > <schn>) snel > schnell
[sw] > [
òw] (<sw> > <schw>) geswinde > geschwinde
[sp] > [
òp] (<sp> bleibt <sp>) spil
[st] > [
òt] (<st> bleibt <st>) stellen

1.5.5 Auslautverhärtung

auslautende [b,d,g] werden zu [p,t,k] (Fortes > Lenes; [+sth.] > [-sth.]). Im mhd. spiegelt sich das in der Schrift wieder, diese Konsequenz läßt die gegenwärtige Orthographie leider vermissen.

1.6 Vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen

Der Übergang zum Neuhochdeutschen ist neben einem weiteren Ausbau des analytischen Sprachbaus geprägt von mehreren, z.T. gegenläufigen Entwicklungen im Vokalismus:

1.6.1 Monophthongierung

der Diphthonge ie, uo, üe > i, u, ü (liebe guote brüeder > liebe gute Brüder)

1.6.2 Diphthongierung

der Langvokale î, ü [y:], û > ei, eu, au (mîn niuwes hûs > mein neues Haus)

1.6.3 Senkung

a) der hohen Vokale: sunne > günnen > gönnen, hüle > Höhle, sunne > Sonne, sun > Sohn

b) der Diphthonge ei, öu, ou: /ei/ > /ai/, /öu/ > /eu/, /ou/ > /au/; weinen > weinen, fröude > Freude, boum > Baum

1.6.4 Hebung

der tiefen Vokale: mâne > Mond, âne > ohne

1.6.5 Rundung

zwelf > zwölf, lewe > Löwe, finf > fünf,

1.6.6 Entrundung

küssen > Kissen, nörz > Nerz

1.6.7 Kürzung

von Langvokalen in geschlossener Silbe: hêrlih > herrlich, brâhte > brachte

1.6.8 Dehnung

von Kurzvokalen in offener Silbe: geben > geben, bote > Bote, klagen > klagen. Dadurch verschieben sich die Silbengrenzen.

 

Die Erscheinungen der Rundung, Entrundung, Senkung der Monophthonge und Hebung sind dabei nicht systematisch sondern wortweise vorgegangen.

1.7 Entwicklungstendenzen im Deutsch des 20. Jahrhunderts

Soweit sich Entwicklungen der Gegenwartssprache quasi "von innen" feststellen lassen, so sind dies zumeist Tendenzen zu bestimmten Sprachmitteln, die bereits vorhanden aber nicht so verbreitet waren, oder Weiterentwicklungen in älteren Sprachstufen bereits latent vorhandener Erscheinungen.

Folgende Phänomene werden als solche Tendenzen gedeutet:

1.7.1 Mehrgliedrige Komposita

Während das Mhd. nur zweigliedrige Komposita kannte, kamen bereits im frühnhd. dreigliedrige Bildungen auf. Inzwischen sind vier- oder fünfgliedrige Bildungen nicht mehr ungewöhnlich. (Oberstabsfeldwebel, Bundesausbildungsförderungsgesetz).

1.7.2 Substantivierungen

Vor allem in der Behördensprache werden verstärkt unpersönliche, abstrakte Formeln verwendet, die die verbalen Satzglieder zugunsten nominaler Satzglieder sinnentleert: Es besteht ein Muß zur Lösung... (sog. Nominalstil). Bildung von Funktionsverbgefügen wie zur Entscheidung bringen.

1.7.3 Syntax

Die durchschnittliche Länge von Satzgefügen sinkt. Die neuhochdeutsche Satzklammer wird oft durchbrochen.

1.7.4 Verben

Der Konjunktiv wird häufig durch umschreibende Bildungen (mit würde) ersetzt, oft tritt der Konjunktiv II an die Stelle des Konjunktiv I, da er morphologisch eindeutiger markiert ist. Die starken Verben werden zu einer unproduktiven Gruppe, einige starke Formen werden durch schwache Neubildungen ersetzt (saugte für sog, haute für hieb). Eine Zunahme von Passivformen wurde ebenfalls beobachtet.

1.7.5 Substantive

Das Genitivobjekt wird oft vermieden, der Genitiv häuft sich andererseits im Nominalstil. Das -s als Genitivkennzeichen von Eigennamen schwindet. Der Dativ als Kasus des direkten Objekts wird häufig durch den Akkusativ ersetzt. (vgl. Tendenz zu Passivformen; nur Verben, die einen Akkusativ nach sich ziehen, können ins Passiv gesetzt werden).

1.7.6 Orthographie

Tendenzen zur Vereinfachung und Vereinheitlichung. (Siehe Kap. 3.3.2).

1.7.7 Anglizismen

Die englische Sprache hat (durch ihre Bedeutung als Weltsprache) einen großen Einfluß auf das Deutsche. Nicht nur in die Umgangssprache, sondern auch in die Schriftsprache gehen verstärkt Wörter englischen Ursprungs ein. Man betrachte nur die Bereiche Multimedia, Computer, Kommunikation, Busineß.

1.8 Exkurs: Das Endonym "deutsch"

Das Wort deutsch ist erstmals - allerdings in lateinischer Form - belegt in einem Bericht des Nuntius Georg von Ostia an Papst Hadrian I. über zwei Synoden, die 786 in England stattfanden: Die dort gefaßten Beschlüsse sollten sowohl in Latein als auch in der Volkssprache (latine et theodisce) verlesen werden, damit jeder sie verstehen könne.

Das lat. theodiscus (als gelehrtes Wort für gentilis, 'völkisch, heidnisch') beruht auf dem germ. *Þeudô 'Volk' + Adjektivsuffix -iska (nhd. -isch) und bezeichnet zunächst nur die germanische Volkssprache im Gegensatz zum Latein. Bis weit in die ahd. Zeit hinein wird es nur selten und ausschließlich auf die Sprache angewendet. Erst um 1090 wird diutisc im Annolied auf Volk, Land und Sprache angewandt. Das vorher gebräuchliche frencisg wurde durch die romanischen Franken des Westreiches beansprucht und war somit uneindeutig, was zur vermehrten Verwendung von diutisc beitrug.

1.9 Hochdeutsch als Ausgleichssprache

Erstmals kann beim Nhd. auch wirklich von einer deutschen Sprache die Rede sein. Dabei ist das Neuhochdeutsche aber nicht ein hervorgehobener Dialekt, sondern eine Ausgleichssprache, die aus vielen Varietäten hervorgegangen ist, und die auch Eigenschaften verschiedener Dialekte in sich vereint.

Das Entstehen einer solchen überregionalen Ausgleichssprache wurde ausgelöst und gefördert durch verschiedene kulturelle und politische Faktoren. Die Erfindung des Buchdrucks, die Einführung der deutschsprachigen Kirchenliturgie, die Reformation, die Hanse (welche allerdings das Niederdeutsche als Verkehrssprache hatte) und vieles mehr sind hier beispielsweise zu erwähnen.

1.10 Anmerkung zur Periodisierung der dt. Sprachgeschichte

Die zeitliche Abgrenzung der einzelnen Sprachstufen ist umstritten und uneinheitlich. Es gibt viele plausible Ansätze dazu, die entweder an innersprachlichen Kriterien (z.B. Lautwandel) oder außersprachlichen Kriterien (literarische bzw. kulturelle Epochen, Ereignisse) festmachen, wann ein Übergang von einer Sprachstufe zur nächsten vollzogen wurde.

So vielfältig wie die Periodisierungsansätze sind auch die Bezeichnungen der Sprachstufen und deren Anzahl. Ich halte mich hier an folgende grobe Gliederung:

 

Sprachstufe

Zeitraum

Kriterium

Indogermanisch

ca. 5000 ~ 1500 v. Chr.

 

Gemeingermanisch

ca. 1500 v. Chr. ~ 500 n. Chr.

1. Lautverschiebung setzt ein

Altochdeutsch

ca. 500 ~ 1050

2. Lautverschiebung setzt ein

Mittelhochdeutsch

ca. 1050 ~ 1350

Vokalentwicklung: Nebensilbenabschwächung

Frühneuhochdeutsch

ca. 1350 ~ 1650

Vokalentwicklung: Diphthongierung schließt ab; soziokulturelle Kriterien

Neuhochdeutsch

seit ca. 1650 ~

soziokulturelle Kriterien


2. Thematische Längsschnitte vom (Indo)Germansichen zum Neuhochdeutschen

2.1 Lautgeschichte / Phonologie

2.1.1 Allgemein

Zweifellos sind die wesentlichsten Veränderungen in der Geschichte der deutschen Sprache lautlicher Natur. Die Lautverschiebungen, die zur Differenzierung der Dialekte führen genauso wie die Nebensilbenabschwächung, die großen Einfluß auf die gesamte Flexion hatte.

Diese Entwicklungen lassen sich grob in zwei Phasen unterteilen. In der ersten Phase, bis in die Zeit des Althochdeutschen hinein, war hauptsächlich der Konsonantismus Veränderungen unterworfen. Er festigte sich dann aber dauerhaft bis in unsere Zeit. In der zweiten Phase war dann das System der Vokalphoneme von den Umwälzungen betroffen, die teilweise (in einigen Dialekten) noch bis heute andauern.

2.1.2 Konsonantismus

2.1.2.1 Erste oder germanische Lautverschiebung

im System der Verschlußlaute:

a) [p, t, k] à [f, þ, c ] stimmloser Plosiv à stimmloser Frikativ
b) [b, d, g]
à [p, t, k] stimmhafter Plosiv à stimmloser Plosiv
c) [bh, dh, gh]
à [b, ð,g ] (<b d,g>) stimmhafter behauchter Plosiv à stimmhafter Frikativ

Beispiele: idg. *peku > ahd. fisk aber lat. piscis.

Diese Verschiebungen fanden nicht in sog. gedeckter Stellung statt, wenn entweder schon im Idg. dem zu verschiebenden Laut [s] vorausging (lat.: spuo, ahd.: spiwan) oder wenn im Idg. zwei Verschlußlaute aufeinanderfolgten (dann wurde nur der jeweils erste verschoben: lat.: noct, got.: naht).

Die stimmlosen Frikative wurden inlautend stimmhaft, wenn der Wortakzent im Idg. nicht auf dem Vokal davor lag: [s, f, Þ, c] à [b, ð,g, z] ([z] entsteht als neues Phonem). Diese Erscheinung wurde nach dem dän. Sprachwissenschaftler Karl Verner Vernersches Gesetz genannt. Grimm, der das Phänomen noch nicht erklären konnte, nannte es grammatischen Wechsel.

2.1.2.2 Westgermanische Konsonantengemination:

Verdopplung von Konsonanten vor [j], seltener [w, l, r]. bidjan (got) ~ bitten (ahd.); germ. *kunja > got. kuni / ahd. kunni (‚Sippe, Familie’)

2.1.2.3 Zweite oder althochdeutsche Lautverschiebung:

a) Tenuesverschiebung:

postvokalisch [p, t, k] à [ff, ss, hh (=x)] Plosiv à Doppelfrikativ
initial, vor Geminata, postkonsonantisch [p, t, k]
à [pf, ts, kx] Plosiv à Affrikate

Keine Verschiebung bei [sp, st, sk, ft, ht, tr], z.B. opan > offan; watar > wazzar; tekan > zeihhan; plegan > pflegan; holta > holz; korna > kchorn

b) Medienverschiebung

[b, d, g], [b, ð,g ] > [p, t, k], [b, t, g] z.B. dag > tag

c) Wandel [þ] > [d]; germ. *broþar > as. brothar / ahd. bruoder

2.1.2.4 Ersetzung der sonantischen Liquide und Nasale:

idg. [l, r, n, m8 ] wurden zu germ. [ul, ur, un, um]. (*plno’voll’ > got. fulls).

 

2.1.2.5 Nasalschwund mit Ersatzdehnung:

germ. *Þanhto > da:hta (‘dachte’); *Þunhto > du:hta (‘dünkte’), *sinh- > si:han (‘seihen').

2.1.2.6 Palatalisierung von [s] > [ò ] / _K

a) mit Wegfall von K [sk] > [ò] (<sk> > <sch>) scriban > schriben
b) ohne Wegfall von K [sl] > [
òl] (<sl> > <sch>) slange > schlange
[sm] > [
òm] (<sm> > <schm>) smal > schmal
[sn] > [
òn] (<sn> > <schn>) snel > schnell
[sw] > [
òw] (<sw> > <schw>) geswinde > geschwinde
[sp] > [
òp] (<sp> bleibt <sp>) spil
[st] > [
òt] (<st> bleibt <st>) stellen

2.1.2.7 Auslautverhärtung:

Auslautende [b,d,g] werden zu [p,t,k] (Fortes > Lenes; [+sth.] > [-sth.]). Im mhd. spiegelt sich das in der Schrift wieder, diese Konsequenz läßt die gegenwärtige Orthographie leider vermissen.

2.1.3 Vokalismus

2.1.3.1 Monophthongierung von germ. ai und ou:

[ai] > [e:] vor [r, h, w]; [ou] > [o:] vor Dentalen [d, t, s, z, n, r, l] und germ. [h] daher ahd. ouga, ora aber got. augo, auso; dadurch entsteht ein zweites [e:] und [o:], das jeweils dem alten germ. [e:] bzw. [o:] im Phonemsystem entgegen steht. Deshalb:

2.1.3.2 Diphthongierung von germ. [e:] und [o:]:

[e:] > [ie], [o:] > [uo]; z.B. got./as. her, ahd. hier/hiar; as. brothar / ahd. bruoder

2.1.3.3 Zusammenfall von Vokalen:

die Kurzvokale [a,o,e] fallen zusammen zu [e]; die Langvokale [a:, o:] fallen zusammen in [o:]; [ei] < [i:]

2.1.3.4 i-Umlaut:

[i, i:, j] in der Folgesilbe bedingen folgende Lautveränderungen:

a > e (ä) (gast - gesti)
a: > æ (ahd. mâri mhd. mære 'Erzählung')
u > ü (ahd. kussen mhd. küssen)
u: > iu [y:] (ahd. hlûten mhd. liuten 'läuten')
o: > œ [œ:] (ahd. skôni mhd. schœne )
ou > öu (ahd. loufit mhd. löufet)
uo > üe (ahd. guoti mhd. güete)

Hier zeigen sich zwei unterschiedliche Schichten des Umlauts. Der erste Typ, der sog. Primärumlaut, in a > e, der sich auch in der ahd. Orthographie niederschlägt, und den anderen, (Sekundärumlaut) der erst in der mhd. Schreibung Eingang findet. Dies legt nahe, daß die Umlauterscheinungen zeitlich gestaffelt eintraten. Solange die Bedeutungsunterscheidung noch durch die Endsilben gewährleistet war, konnten daher Formen wie sconi (gesprochen scœni) und scono noch gleich mit <o> geschrieben werden. (Im mhd. ändert sich das durch die Endsilbenabschwächung...)

2.1.3.5 Kombinatorischer Lautwandel im gesamten Westgerm.: (sog. Brechung)

germ. e > i vor i,j,u, Nasal+Konsonant
germ. i > e vor i,j,u, Nasal+Konsonant
germ. u, idg.
[l, r, n, m] und germ. [ul, ur, un, um] > o vor a,e,o
germ. eu > io vor a,e,o; iu vor i,j,u
Das zeigt sich im ahd. Flexionssystem: z.B. nimu, nimis aber nement (nehme, nimmst, sie nehmen)

2.1.3.6 Monophthongierung

der Diphthonge ie, uo, üe > i, u, ü (liebe guote brüeder > liebe gute Brüder)

2.1.3.7 Diphthongierung

der Langvokale î, ü [y:], û > ei, eu, au (mîn niuwes hûs > mein neues Haus)

2.1.3.8 Senkung

a) der hohen Vokale: sunne > günnen > gönnen, hüle > Höhle, Sonne, sun > Sohn

b) der Diphthonge ei, öu, ou: /ei/ > /ai/, /öu/ > /eu/, /ou/ > /au/; weinen > weinen, fröude > Freude, boum > Baum

2.1.3.9 Hebung

der tiefen Vokale: mâne > Mond, âne > ohne

2.1.3.10 Rundung

zwelf > zwölf, lewe > Löwe, finf > fünf,

2.1.3.11 Entrundung

küssen > Kissen, nörz > Nerz

2.1.3.12 Kürzung

von Langvokalen in geschlossener Silbe: hêrlih > herrlich, brâhte > brachte

2.1.3.13 Dehnung

von Kurzvokalen in offener Silbe: geben > geben, bote > Bote, klagen > klagen

2.1.3.14 Anmerkung zu den Nhd. Entwicklungen

Die Erscheinungen der Rundung, Entrundung, Hebung und Senkung der Monophthonge sind dabei nicht systematisch vorgegangen.

2.2 Morphologie

2.2.1 Verben

2.2.1.1. Starke vs. schwache Konjugation

Der neuhochdeutsche Gesamtwortschatz wird mit ca. 500.000 bis 600.000 Wörtern beziffert, von dem etwa 25% Verben sind. Diese teilen sich auf in zwei Klassen, die starken Verben, die in ihrer Konjugation einen systematischen Vokalwechsel (sog. Ablaut) im Grundmorphem (Stamm) haben, und die schwachen Verben ohne systematischen Vokalwechsel. Der Anteil der starken Verben ist dabei durchweg der Ältere. Zu den etwa 180 Formen treten keine neuen mehr hinzu, das System ist abgeschlossen. Neu entstehende Verben haben also immer eine schwache Flexion (Merkmal: Dentalsuffix (aus enklitischem -tat) im Präteritum).

Der systematische Lautwechsel im Präsens der starken Flexion ist unterscheidbar nach sieben Hauptklassen, er hat jedoch keine grammatische Funktion mehr, wie der idg. Ablaut:

1. a à e
2. a:
à ä:
3. o
à ö
4. au
à äu
5. e
à i
6.a e:
à i:
6.b e:
à i
7 ö
à i

2.2.1.2. Ablautreihen:

Unter Ablaut versteht man den regelmäßigen Wechsel von Vokalen in etymologisch zusammengehörigen Wörtern oder Wortteilen; im engeren Sinne nur im Indogermanischen.

Zum Vergleich zwei althochdeutsche Ablautreihen:
1. biotan, biutu, bôt, butun, gibotan bzw.
2. grîfan, grîfu, greif, grifun, gigriffan Zur besseren Darstellung reduziere ich auf die ausschlaggebenden Vokale:
1. io, iu, ô, u, o
2. î, î, ei, i, i

Diese Vokale führen wir nun auf ihre idg. Ursprünge zurück:
1. io/iu < eu; ô < ou; u/o < u;
2. î < ei; ei < oi; i < i
Dabei stellt sich heraus, daß im idg. die Ablautreihen so aussahen
1. eu, eu, ou, u, u
à eu-ou-u
2. ei, ei, oi, i, i
à ei-oi-i

Also wechselt im idg. nur der erste Bestandteil des Diphthongs: e-o-Ø
Es handelt sich um einen (qualitativen) Ablaut auf der mittleren Ebene des Vokaldreiecks:

   i          u

     e     o

        a

Hier ist also die eigentliche Regelmäßigkeit des Ablauts zu finden, die durch die lautlichen Entwicklungen verschleiert bzw. verwischt wurde.
Es gibt noch andere Ablautvarianten (â-ô-Ablaut, qualitaviver e-ê-Ablaut), auf die ich aber hier nicht eingehen möchte.

2.2.1.3. analytische Tempora

Im Germanischen gibt es keine analytischen Tempora. Die Einführung und Verwendung dieser Zeiten wird zurückgeführt auf den Versuch, die deutsche Grammatik mit den Mitteln der lateinischen Grammatik analog zu beschreiben, nachdem die synthetischen Tempora teilweise bereits im Germanischen, sonst durch den Formenzerfall (wegen der Abschwächung der Nebensilbenvokale) verfielen.

2.2.1.4. Flexion

Durch die verschiedenen lautlichen Entwicklungen, insbesondere durch die Abschwächung der Nebensilben kam es zu einem starken Verfall der Flexionsparadigmen, vor allem im Konjunktiv.

2.2.2 Substantive

2.2.2.1 Vorbemerkung

Wie schon in der Adjektiv- und in der Verbflexion gezeigt, hatte die Entwicklung des Lautsystems Einfluß auf die Flexion. Im Germanischen war jeder Kasus durch ein eigenes Relationsmorphem eindeutig gekennzeichnet:
dag-a-z (Nom.Sg.), dag-a-ns (Akk. Pl.)

gast-i-z (Nom.Sg.), gast-i-ns (Akk.Pl.)
dabei sind {dag, gast} Grundmorpheme (Wurzeln), {-i-, -a-} Formationsmorpheme (Stammbildungeselemente) und {-z, -ns} Relationsmorpheme (Flexionselemente).

Die Substantive wurden anhand der Stammbildungselemente in Klassen eingeteilt, nämlich die "schwache", -n-Klasse und die "starken", Klassen mit -a-, -i- und andereren Vokalen.

2.2.2.2 Deklinationsparadigmen im Althochdeutschen

Klasse

Maskulinum

Neutrum

Femininum

Singular

Plural

Singular

Plural

Singular

Plural

1 -n

der boto des boten
demo boten
den boton

dia boton
dero botôno
dêm botôm
dia boton

daz herza
des herzen
demo herzen

diu herzen
dero herzôno
dêm herzôm
diu herzun

diu zunga
dera zungûn
deru zungûn
dia zungûn

dio zungûn
dero zungôno
dêm zungôm
dio zungûn

2 -ô

 

 

 

 

diu geba
dera geba
deru gebu
dia geba

dio gebâ
dero gebôno
dêm gebôm
dio gebâ

3 -a

der tag
des tages
demo tage
den tag

dia taga
dero tago
dêm tagum
dia taga

daz wort
des wortes
demo worte
daz wort

diu wort
dero worto
dêm wortum
diu wort

 

 

4 -i

der gast
des gastes
demo gaste
den gast

dia gesti
dero gestio
dêm gestim
dia gesti

 

 

diu kraft
dera krefti
deru krefti
dia kraft

dio krefti
dero kreftio
dêm kreftim
dio krefti

 

Hier zeigt sich, daß die Akzentfestlegung auf den Wortanfang bereits für eine Verwischung und Vereinfachung sowie einen Wegfall einzelner Formen gesorgt hat; der Artikel, der hier dazugesetzt ist, brauchte im ahd. nicht verwendet zu werden, so daß eine isolierte Form nicht immer eindeutig einem Kasus zugeordnet werden kann. Dennoch ist die Kasuskennzeichnung relativ gut erkennbar, wohingegen eindeutige Numerus- und Genuskennzeichnung nicht vorhanden sind.

Es traten mehrere Sonderklassen auf, von denen eine für die weitere Entwicklung besonders wichtig wurde:

Neutrum

Singular

Plural

daz lamb
des lambes
demo lambe
daz lamb

diu lembir
dero lembiro
dêm lembirum
diu lembir

-ir- ist ein Stammbildungselement, das im Singular weggefallen ist. Es löst im Pl. den Umlaut aus, und wird so später Vorbild für eine neue Art der Pluralbildung. Umlaut + (abgeschwächtes) -er wird im mhd. zu einem neuen Pluralkennzeichen in Wörtern, die zuvor keinen Umlaut hatten (nhd. Sg - Pl. Wort - Wörter, Wald - Wälder).

2.2.2.3 Deklinationsparadigmen im Mittelhochdeutschen

Klasse

Maskulinum

Neutrum

Femininum

Singular

Plural

Singular

Plural

Singular

Plural

1

der bote
des boten
dem boten
den boten

die boten
der boten
den boten
die boten

daz herze
des herzen
dem herzen
daz herze

diu herzen
der herzen
den herzen
diu herzen

diu zunge
der zungen
der zungen
die zunge

die zungen
der zungen
den zungen
die zungen

2

 

 

 

 

diu gebe
der gebe
der gebe
die gebe

die gebe
der geben
den geben
die gebe

3

der tac
des tages
dem tage
den tac

die tage
der tage
den tagen
die tage

daz wort
des wortes
dem worte
daz wort

diu wort
der worte
den worten
diu wort

diu zît
der zîte
der zîte
die zît

die zîte
der zîte
den zîten
die zîte

4

der gast
des gastes
dem gaste
den gast

die geste
der geste
den gesten
die geste

daz blat
des blates
dem blate
daz blat

diu bleter
der bleter
den bletern
diu bleter

diu kraft
der kraft/krefte
der kraft/krefte
die kraft

die krefte
der krefte
den kreften
die krefte

Es zeigt sich hier die Fortsetzung der bereits im ahd. begonnenen Entwicklung. Oft gibt es nur noch zwei Wortformen, so daß der Kasus nicht mehr am Wort selbst feststellbar ist. In der 1. Klasse bildet sich ein Einheitsplural, in dem alle Formen gleich sind, in der 2. Klasse ein Einheitssingular, der im Femininum der 4. Klasse zunächst ansatzweise, später vollständig entsteht, so daß hier der Umlaut nur noch im Plural auftritt. Die o.a. Sonderklasse

Neutrum

Singular

Plural

daz lamb
des lambes
dem lambe
daz lamb

diu lember
der lembere
den lemberen
diu lember

zeigt die bereits angesprochene Entwicklung ebenfalls. Durch diese wird der Umlaut volksetymologisch zum Pluralkennzeichen gemacht und dringt mit analogen Bildungen in andere Paradigmen ein.

Insgesamt ist also eine genauere Numeruskennzeichnung zu lasten einer immer weiter verwischten Kasuskennzeichnung eingetreten; eine Entwicklung, die sich zum Neuhochdeutschen hin fortsetzt, wobei Einheitssingular im Femininum und (unvollständiger) Einheitsplural in allen Genera analog auf die anderen Klassen übertragen wurden.

Diese Vereinfachung der Formenvielfalt durch den Endsilbenverfall hatte zur Folge, daß die Kasuskennzeichnung vom Substantiv weg auf das Adjektiv und den Artikel verlagert wurde.

2.2.3 Adjektive

2.2.3.1 Vorbemerkung

Adjektive haben drei grammatischer Kategorien, die an ihnen ausgedrückt werden: Kasus, Numerus, Genus. Wenn man sich aber das Flexionsparadigma der ahd. Adjektive ansieht, so gibt es für jede der 24 Positionen zwei Formen, eine sogenannte nominale (schwache) und eine pronominale (starke) Form. Die zwei Formen waren schon im Germanischen vorhanden und hatten die Funktion, die heute durch die Artikel wahrgenommen wird. Eine nominale Form war individualisierend, eine pronominale Form generalisierend. Z.B. ahd.: kilaubu in kot fater almahticun '...den allmächtigen' versus in hohan berg '(irgend)einen hohen Berg' oder nioman sentit niowan wîn in alte belgi 'niemand füllt jungen Wein in alte Schläuche'.

2.2.3.2 Althochdeutsche Adjektivendungen

 

Maskulinum

Neutrum

Femininum

 

nominal

pronominal

nominal

pronominal

nominal

pronominal

Nom. Sg.
Gen.
Dat.
Akk.

-o
-en
-en
-on

-êr
-es
-emo
-an

-a
-en
-en
-a

-az
-es
-emo
-az

-a
-ûn
-ûn
-ûn

-iu
-era
-eru
-a

Nom. Pl.
Gen.
Dat.
Akk.

-on
-ôno
-ôm
-on

-e
-ero
-êm
-e

-un
-ôno
-ôm
-un

-iu
-ero
-êm
-iu

-ûn
-ôno
-ôm
-ûn

-o
-ero
-êm
-o

 

Wie die Tabelle zeigt, wirkte sich auch hier die Abschwächung der Nebensilben auf die Morphologie aus: Formen wurden uneindeutig oder fielen zusammen. Um die alte Unterscheidung individuell / generell weiter ausdrücken zu können, mußten nun Umschreibungen mit Demonstrativpronomen (indiv.) bzw. Zahlwort ein (gener.) verwendet werden. Daraus entstanden später die Artikel.

2.2.3.3 Mittelhochdeutsche Adjektivendungen

 

Maskulinum

Neutrum

Femininum

 

nominal

pronominal

nominal

pronominal

nominal

pronominal

Nom. Sg.
Gen.
Dat.
Akk.

-e
-en
-en
-en

-er
-es
-em
-en

-e
-en
-en
-e

-ez
-es
-em
-ez

-e
-en
-en
-en

-iu
-er
-er
-e

Nom. Pl.
Gen.
Dat.
Akk.

-en
-en
-en
-en

-e
-er
-en
-e

-en
-en
-en
-en

-iu
-er
-en
-iu

-en
-en
-en
-en

-e
-er
-en
-e

 

Die Entwicklung des Zusammenfalls setzt sich im Mhd. fort und führt zu einem Verlust der Eindeutigkeit. Die Trennung stark / schwach ist nicht mehr durchgängig vorhanden. Deshalb verliert sie auch ihre Funktion. Die verschiedenen Formen werden jetzt formal verwendet:

nach bestimmtem Artikel: nominale Form
nach unbestimmtem Artikel: pronominale Form
ohne Artikel: pronominale Form

2.2.3.4 Neuhochdeutsche Adjektivendungen

 

Maskulinum

Neutrum

Femininum

 

nominal

pronominal

nominal

pronominal

nominal

pronominal

Nom. Sg.
Gen.
Dat.
Akk.

-e
-en
-en
-en

-er
-en
-em
-en

-e
-en
-en
-es

-es
-en
-em
-es

-e
-en
-en
-e

-e
-er
-er
-e

Nom. Pl.
Gen.
Dat.
Akk.

-en
-en
-en
-en

-e
-er
-en
-e

-en
-en
-en
-en

-e
-er
-en
-e

-en
-en
-en
-en

-e
-er
-en
-e

 

Die inzwischen eigentlich überflüssigen (da ihrer ursprünglichen Funktion beraubten) starken Formen sind im Nhd. immer noch vorhanden. Sie haben eine neue Funktion übernommen: sie sind Kasuskennzeichen, wenn der Kasus nicht eindeutig durch Substantiv, Artikel oder Pronomen gekennzeichnet ist. Ist der Kasus bereits eindeutig gekennzeichnet, wird die schwache Form verwandt:

der frische Wein
ein frischer Wein
dem frischen Weine
einem frischen Weine
frischem Weine

Auf diese Weise ergänzen sich die Endungen der Substantive und Adjektive nahezu vollständig, so daß eine eindeutige Kennzeichnung des Kasus in den meisten Fällen gewährleistet ist.

2.3 Syntax

2.3.1 Generelle Entwicklung

In der Entwicklung der Syntax der deutschen Sprache sind zwei Haupterscheinungen festzustellen. Zum einen wird der synthetische Satzbau mehr und mehr vom zum analytischen Satzbau verdrängt, Artikel, Personalpronomina, Hilfs- und Modalverbkonstruktionen u.ä. treten hinzu.

Gleichzeitig bewirkt der Verfall der Flexionssysteme (insbesondere der Kasusverfall) eine rigidere Satzstellung. Satzglieder, die zuvor an jeder Position stehen konnten, sind nun auf bestimmte Positionen festgelegt. Dies soll an zwei Beispielen gezeigt werden:

2.3.2 Stellung des finiten Verbs

In den älteren Sprachstufen war die Satzstellung nicht so festgelegt wie im Neuhochdeutschen. So konnte das finite Verb an jeder Position stehen:

ahd.: quam thô wîb sceffen wazzar
thô ther heilant waz gileitit in wuostina
after thrin tagun fundun inan
thio tumbûm thên spâhôn quadun

Das ist im Neuhochdeutschen nicht mehr so. Die Festlegung auf die 2. Stelle (Mit Ausnahmen in lyrischer Sprache, Fragesätzen, Imperativsätzen, Wunschsätzen) fällt zeitlich zusammen mit der Entstehung der analytischen Tempora.

Zugleich gibt es seit dem Anfang des Nhd. die Tendenz, einen prädikativen Satzrahmen (Neuhochdeutsche Satzklammer) zu bilden, also die finite und die infinite Verbform in eine Distanzstellung zu bringen: So wird das Prädikat um weite Teile des Satzes herum aufgeteilt.

 

2.3.3 Stellung des Attributs

Auch die Stellung des Attributs hat sich verändert. Konnte es in den älteren Sprachstufen sowohl voran- als auch nachgestellt werden, so ist im Nhd. nur eine Voranstellung zulässig:

mhd.: er tranc einen trunc also starc
nhd.: er trank einen so starken Trunk

2.4 Lexikon

2.4.1 Bedeutungswandel

Nicht nur die Form der sprachlichen Zeichen, auch deren Inhaltsseite, bzw. ihre Bedeutung, kann sich im Laufe der Zeit verändern. Bedeutung ist hier als die Denkbedeutung zu verstehen, die von der kategoriellen Bedeutung ('Tun', 'Ding', 'Eigenschaft') zu trennen ist. Bedeutungswandel kann eintreten, wenn sich die außersprachlichen Sachverhalte ändern. Dies kann nach verschiedenen Prinzipien geschehen:

  • Logisches Prinzip
    a) Spezialisierung (mehr relevante Merkmale) z.B. ahd. wurm 'alles was kriecht' > Wurm
    b) Erweiterung (weniger relevante Merkmale) z.B. germ. *þenga- > nhd. Ding
    c) graduell gleichwertig (andere relevante Merkmale, z.B. bei Ironie, Metonymie, Bahuvrihi)
  • Axiologisches Prinzip (Verschiebung von Wertgesichtspunkten), wie beispielsweise bei wîp'Frau' > Weib'schlechte Frau' (bzw. im ganzen Wortfeld: Dame, Frau, Weib, etc.), oder Minister / Magister

Der Bedeutungswandel kann dabei die urspüngliche Bedeutung teilweise (partieller Bw.) verändern, etwa wie bei wîp > Weib, oder eine völlig neue Bedeutung schafften (totaler Bw.), wie bei ahd. bald 'kühn, tapfer' (Adj.) >nhd. bald 'zeitl. Nähe' (Adv.).

2.4.2 Wortschatz

Sprachlicher Wandel im Bereich des Lexikons ist aber auch auf andere Weise möglich. So bereichern auf der einen Seite Neuschöpfungen, Lehnwörter und Fremdwörter den Wortschatz (z.B. Blauhelm, Wolkenkratzer, Laser), auf der anderen Seite werden Wörter oder Wortverwendungen ungebräuchlich und fallen aus dem Wortschatz heraus (z.B. minne).

Schreibung und Schriftlichkeit

3.1 Schriftliche Überlieferung

Das Deutsche ist seit dem 8. Jahrhundert schriftlich überliefert. Neben Inschriften sind es zumeist kirchliche Gebrauchstexte (Bibelübersetzungen, Gebete, Taufgelöbnisse), daneben aber auch Heldenlieder (Hildebrandslied). Seit dem mhd. sind fast alle Textgattungen belegt; vor allem die Erfindung des Buchdrucks hat die Zahl der produzierten Texte in die Höhe schnellen lassen, so daß spätestens seitdem eine relativ umfangreiche schriftliche Überlieferung gewährleistet ist.

3.2 Graphemsysteme

Bis auf wenige Ausnahmen ist das Deutsche in lateinischer Schrift überliefert. Es gibt jedoch auch einige Texte in hebräischer Schrift. Runentexte sind zumeist älter und eher dem Germanischen zuzuordnen, dennoch werden beide Schriften noch eine Zeit lang parallel verwendet. Das lateinische Alphabet, sofern es verwendet wurde, paßte jedoch nur ungenau zur deutschen Sprache. So fehlten beispielsweise Zeichen für die Affrikaten und einige Frikative, die unterschiedlichen Vokalquantitäten und -qualitäten konnten nicht ohne weiteres dargestellt werden. Es mußten also neue Grapheme oder Graphemkombinationen eingeführt werden, die aber teilweise sehr uneinheitlich verwendet wurden: <ph, pph, pf, ppf, bph, fph, fpf, pff> für /pf/ neue Grapheme für /h/ <h>, /Þ/ <Þ, d >.

Sehr schön zeigt sich dies am Graphem <sch>, das schon im ahd. parallel zu <sk> für /sk/ verwendet wird (analog zu <k, ch> für /k/. Nach der Palatalisierung von [sk] zu [ò ] wurde <sch> als Schriftzeichen beibehalten und uminterpretiert auf andere Fälle übertragen: <sl> > <schl>, etc.

Eine ähnliche Uminterpretierung widerfuhr dem Graphem <ie>, das vor der Monophthongierung /ie/, später /i:/ bezeichnete. Das <e> wird hier nur noch als Längenzeichen verwendet.

Die Aufgabe, ein bereits vorhandenes Graphemsystem auf eine Sprache mit einer anderen Lautstruktur anzuwenden, ist die Hauptschwierigkeit in der Geschichte der deutschen (und manch anderer) Schreibsprache.

 

3.3 Orthographie

3.3.1 Geschichtlicher Überblick

Versuche, die Schreibung des Deutschen zu normen, gibt es seitdem es geschrieben wird. In althochdeutscher und mittelhochdeutscher Zeit schrieb man so, wie man sprach, d.h., daß sich sehr regionale Schreibregelungen ergaben, die jeweils für eine Schreibstube, eine Druckerei, o.ä. galten. Manchmal waren es auch nur selbst aufgestellte Regeln einzelner Autoren, die sozusagen als "private Orthographie" aufgestellt wurden, um innerhalb eines Textes konsequent zu schreiben. So mancher Autor hat auch das nicht getan.

Die Sprachgesellschaften des 17. Jhs., die sich mit der deutschen Sprache und Literatur beschäftigten, sind als Hauptquellen eines neuzeitlichen Bestrebens nach einheitlicher Orthographie zu nennen. Die bekannteste unter ihnen ist die 1617 gegründete "Fruchtbringende Gesellschaft", auch "Palmenorden" genannt. Diese Gesellschaften waren bestrebt, die deutsche Sprache als Literatursprache zu fördern, sie von ausländischen Einflüssen zu reinigen und sie zu normieren. (Sprachpurismus). Dazu zählt neben der Rechtschreibung auch die Regelung der (Bühnen-) Aussprache (Orthoepie) und das Bemühen, deutsche Wörter statt Fremdwörter zu verwenden: Fernglas statt Teleskop, Anschrift statt Adresse.

Bei diesen Ansätzen tat sich die Schwierigkeit auf, eine unangefochtene normgebende Instanz und zudem einen Maßstab für die Festlegung der Norm zu finden. Dabei gab es zwei Hauptrichtungen. Die eine favorisierte eine über den Dialekten stehende Literatursprache. Hier ist vor allem Justus Georg Schottel (auch: Schottelius) zu nennen, der mit Seinem Werk "Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache" einen wichtigen Vorstoß in diese Richtung machte. Die andere Richtung bevorzugte die Sprache der ostmitteldeutschen höheren Stände. Hierzu sind Christian Gueintz und Philipp von Zesen einzuordnen.

Gueintz stellte als allgemeine Kriterien für die Rechtschreibung die Etymologie, die Aussprache und den Usus heraus. Doch erst Hieronymus Freyer entwickelte und systematisierte in seiner Arbeit "Anweisung zur Teutschen Orthographie" (1722) theoretische Prinzipien der Rechtschreibung: Aussprache, Abstammung, Analogie und Schreibgebrauch. Dabei wurde im Folgenden immer das meiste Gewicht auf den Schreibgebrauch gelegt, die anderen Kriterien wurden nur zur theoretischen Begründung einzelner Fälle herangezogen.

Eine weitere wichtige Person in der Geschichte der Rechtschreibung war Johann Christoph Gottsched. Mit seiner "Grundlegung einer deutschen Sprachkunst" (1748), die sich im Wesentlichen an Freyer hält, nahm er großen Einfluß auf die Orthographiediskussion. Auch er setzte sich für eine Festlegung der Literatursprache auf den Sprachgebrauch in Obersachsen ein.

Den bedeutendsten Einfluß aber (und auch mehr Erfolg als seine Vorgänger) erreichte der Lexikograph und Grammatiker Johann Christoph Adelung der sich in seinen Regeln zur Rechtschreibung vor allem am Sprachgebrauch orientierte. Sein wichtigstes Werk ist die , "Vollständige Anweisung zur deutschen Orthographie" (1788). Er faßte seine Regelung zusammen im "Grundgesetz der deutschen Orthographie":

"Schreib das Deutsche und was als Deutsch betrachtet wird, mit den eingeführten Schriftzeichen, so wie du sprichst, der allgemeinen, besten Aussprache gemäß, mit Beobachtung der erweislichen nächsten Abstammung und, wo diese aufhöret, des allgemeinen Gebrauches."

Damit befürwortete er vor allem Formen und Schreibungen, die bereits weit verbreitet und üblich waren, was es erleichterte, sie zur Norm zu machen. Die Bedeutung Adelungs rührt sicher auch daher, daß er ein Wörterbuch verfaßte, in dem man die Schreibung der einzelnen Wörter nachschlagen konnte (und nicht nur die allgemeinen Regeln), welches seinerzeit das einzige dieser Art war, und daher, daß sich Dichter und Schriftsteller wie Goethe, Lessing, Schiller, Wieland, Voss u.a. auf dieses Wörterbuch bezogen.

Die Grammatiker und Lexikographen Jacob und Wilhelm Grimm, die seit dem frühen 19. Jahrhundert vergleichende Sprachforschung betrieben und seit etwa 1850 das Deutsche Wörterbuch ausarbeiteten, hielten sich zwar in diesem Wörterbuch weitgehend an den gängigen Schreibgebrauch, legten jedoch im Vorwort des Werks ihre Auffassung über eine reformierte Orthographie dar.

Sprach- und kulturpolitisch ist die Erstellung eines solchen Wörterbuches ein entscheidender Meilenstein auf dem Weg zur einheitlichen Hochsprache.

Dazu kommt eine andere Entwicklung: seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in den deutschen Einzelstaaten die Schreibung per Gesetz so weit vereinheitlicht, daß jeweils innerhalb einer Schule dieselbe Norm gelte. Mit der Reichsgründung (1871) kamen neue Impulse in diese Richtung, 1876 fand eine erste Konferenz statt, die eine einheitliche Regelung erarbeitete. Die wenigen Regelungen (Einschränkung von th und -ieren statt -iren) wurden 1879 (Bayern, Österreich) bzw. 1880 (Preußen) amtlich. Eine allgemeingültige Regelung für den gesamten deutschen Sprachraum (also auch die Schweiz) trat erst im Jahre 1902 in Kraft. Es handelte sich hierbei um die Regelungen, die von Konrad Duden zunächst nach den Ergebnissen von 1880 und dann nach denen der Berliner Konferenz von 1901 erarbeitet wurden.

Das 1902 erschienene orthographische Wörterbuch wurde ein Jahr später um den sog. "Buchdruckerduden" ergänzt; beide Bände wurden 1915 zu einem Buch zusammengefaßt.

Erst 1955 wurde der "Duden" in der Bundesrepublik von der Kultusministerkonferenz als maßgeblich in allen Zweifelsfällen von Orthographie und Zeichensetzung anerkannt.

Der Regelungen von 1901 waren eigentlich als Übergangsregelungen gedacht, jedoch verzögerten die beiden Weltkriege und die deutsche Teilung die Ausarbeitung eines verbesserten Regelwerkes für lange Zeit.

3.3.2 Orthographiereform

Erst vor wenigen Jahren (1988) wurde ein Konzept für eine Reform der Rechtschreibung vorgelegt und in veränderter Fassung auch in allen deutschsprachigen Ländern angenommen (1994/1995). Viele gute Ansätze, uneinheitliche Regelungen des Duden zu vereinheitlichen und die Zeichensetzung und Schreibung zu vereinfachen, sind durch die beschließenden Organe wieder verworfen worden. Zudem ist bewußt behutsam vorgegangen worden, um Rücksicht auf Schreibende und Schreibkultur zu nehmen und um die Lesbarkeit der bisherigen Orthographie nicht zu gefährden.

Wie schon vor hundertzwanzig Jahren stoßen auch die gegenwärtigen - sanfteren - Reformvorschläge der Orthographiekommission bei Politik und Bevölkerung auf Ablehnung. Die per Gesetz beschlossene Rechtschreibreform wird derzeit in Deutschland vor verschiedenen Gerichten angefochten, wobei m.E. übersehen wird, für wen diese Regelungen überhaupt verbindlich sind: Behörden, Schulen, staatliche Einrichtungen. Daß es jedem überlassen ist, wie er privat schreibt, ob er sich überhaupt an eine Schreibnorm hält, wird oft außer Acht gelassen. Eine dauerhafte Lösung im Streit um die Reform scheint deshalb nicht in Sicht.

3.3.3 Orthographische Prinzipien

Wie bereits in Teil 3.3.1 angesprochen, gibt es verschiedene Prinzipien, Rechtschreibung systematisch zu regeln, die sich teilweise zuwider laufen.

3.3.3.1 historisches Prinzip

Das historische Prinzip orientiert sich daran, wie das einzelne Wort bisher geschrieben wurde, also im Wesentlichen am bereits bestehenden Schreibgebrauch. Ein gutes Beispiel hierfür ist auch das Französische, das eine sehr konservative Orthographie hat. Das deutsche <Eltern> ist ein Beispiel, das zugleich im Widerspruch zum folgenden Prinzip steht.

 

3.3.3.2 etymologisch- morphologisches Prinzip

Das etymologisch-morphologische Prinzip fordert die Gleichschreibung etymologisch zusammengehörender Wörter oder Wortteile, z.B. flektierte Formen, Ableitungen. Es wird in der deutschen Orthographie teilweise angewandt, z.B. bei der Auslautverhärtung, die nicht schriftlich widergegeben wird, um /hunt/ <Hund> und /hundes/ <Hundes> sofort als zusammengehörig zu kennzeichnen. Es wird jedoch nicht konsequent durchgehalten, z.B. <Eltern> vs. <älter>, und in anderen Fällen fälschlich angewandt, z.B. beim Reformvorschlag <belämmert> (statt bisher <belemmert>) zu <Lamm>, obwohl kein etymologischer Zusammenhang besteht.

 

3.3.3.3 phonologisches oder phonetisches Prinzip

Das phonologische Prinzip fordert eine eindeutige Zuordnung von Phonem und Graphem im Verhältnis 1:1. Allophone sollen dabei das selbe Graphem haben, z.b. /R/ und /r/ beide <r>. Dieses Prinzip ist in der deutschen Orthographie nicht ohne aufwendige Umgestaltung durchführbar.

Problematisch wären im Deutschen die Buchstabenkombinationen <sch>, <ch> oder <h> und <e> als Längenkennzeichen, und umgekehrt <x>, das für die Lautfolge [ks] steht. Die Vokalquantität ist bedeutungsdifferenzierend, wird aber nicht einheitlich (wenn überhaupt) graphisch repräsentiert.

In einigen Sprachen wird nach diesem Prinzip geschrieben, beispielsweise Türkisch (seit 1928) und Kroatisch.

Dieses Schreibprinzip birgt noch ein weiteres Problem: auf lange Sicht wird sich das Phoneminventar des Deutschen (wie das jeder anderen Sprache auch) verändern. Dann wäre eine Schreibreform durchzuführen, oder das Prinzip wäre zerstört.

Geht man noch einen Schritt weiter, so gelangt man zum phonetischen Prinzip. Hier wäre eine exakte Wiedergabe der Laute gefordert, die also auch Allophonen eigene Grapheme zuordnet. Diese Schreibung (vgl. IPA Lautschrift) wäre jedoch nicht alltagstauglich, da sie zu viele irrelevante Merkmale schreiben würde, und so auch nicht für eine übergreifende Schreibung einer überregionalen Hochsprache geeignet wäre.

3.3.3.4 logisches oder semantisches Prinzip

Das logische Prinzip ist eine Zusammenfassung von etymologischem und phonologischem Prinzip mit der Erweiterung, daß es Abwandlungen bzw. Abweichungen vorsieht, um Homonymenkonflikte zu vermeiden: <Lerche> vs. <Lärche>, <Weise> vs. <Waise>, <gebe> vs. <gäbe>. Auch dieses Prinzip ist in der deutschen Rechtschreibung nicht konsequent durchgesetzt, z.B. <vertiert> /fertiert/ 'zum Tier geworden' vs. /vertiert/ 'gewendet'.

3.4 Anmerkungen zur Schreibung des Deutschen

Bedauerlicherweise ist bereits der Reformvorschlag nur sehr vorsichtig formuliert worden; wirklich tiefgreifende Änderungen waren nie vorgesehen. Eine konsequente graphische Umsetzung der Auslautverhärtung beispielsweise wird es auch weiterhin nicht geben. Auch von einem Phonem-Graphem-Verhältnis von 1:1 ist die Schreibung des Deutschen leider weit entfernt. Es gibt sicherlich Sprachen, die mit einer noch viel komplizierteren Rechtschreibung funktionieren, und in denen das Laut-Buchstaben-Verhältnis teilweise noch viel ungünstiger ist (Deutsch 100:112; Englisch 100:124; Französisch 100:148).

Aber es gibt genauso gut auch Beispiele dafür, wie eine einfache, logische, den Bedürfnissen einer Sprache angepaßte Orthographie entwickelt und beschlossen wurde, z.B. im Serbokroatischen, wo dies sogar mit zwei Alphabeten (Latein und Kyrillisch) funktioniert.

 

4. Sprachwandel und Sprachkontakt

4.1. Theorie des Sprachwandels

Alle in dieser Zusammenfassung genannten Erscheinungen und Veränderungen sind Aspekte des Sprachwandels. Die Betrachtung der Sprachgeschichte ist immer die Betrachtung des Sprachwandels, da er die Grundbedingung für eine Sprachgeschichte ist. Er setzt ein, sobald sich innerhalb eines Sprachsystems Variation bildet. Wenn also beispielsweise die Konjunktion weil hauptsatzeinleitend ("Weil das ändert sich so.") als genauso korrekt angesehen wird, wie nebensatzeinleitend ("Weil das sich so ändert,..."), dann tritt hier Variation auf. Genauso, wie neue Variationen auftreten, verschwinden alte Variationen, oder werden verdrängt in bestimmte Sprachschichten bzw. -regionen, so daß sich die Sprache wie in einem Stammbaum immer weiter verzweigt.

Neben diesem Sprachwandel von innen heraus gibt es aber auch noch den Sprachkontakt. Kulturelle, wirtschaftliche und politische Beziehungen zwischen Sprachgemeinschaften sind die Regel. Der Sprachkontakt führt nahezu zwangsläufig zu Neuerungen in den betroffenen Sprachen. So wie beispielsweise der Kontakt mit der römischen Kultur den Germanen römische Güter und Erfindungen brachte, deren lateinische Bezeichnungen als Lehnwörter (ziagal, fenster) auch ins Deutsche eingingen. In jüngerer Zeit ist vor allem die Schwestersprache Englisch Ursprung vieler Lehn- und Fremdwörter, die in den deutschen Wortschatz gelangen.

Was die Ausbreitung solcher sprachlicher Neuerungen angeht, gibt es zwei Theorien. Die Wellentheorie geht von einer strahlenförmigen, strömungshaften Verbreitung aus (vergleichbar mit den konzentrischen Kreisen, die entstehen, wenn man einen Stein ins Wasser wirft; Monogenese), die Entfaltungstheorie geht davon aus, daß die Neuerungserscheinungen zu verschiedenen Zeitpunkten, an verschiedenen Orten, von verschiedenen Sprechern in unterschiedlicher Intensität ausgingen (Polygenese).

4.2 Sprachwandel = Sprachverfall?

Seit jeher steht jeder Sprecher einer Sprache den Veränderungen, die sie durchmacht in einem zwiegespaltenen Verhältnis gegenüber. Zum einen ist jeder Sprecher beteiligt am Sprachwandel, zum anderen betrachtet er ihn. Eine konservative Haltung der Sprache gegenüber verleitet dazu, sprachliche Neuerungen als Verfall anzusehen, während andere dieselbe Entwicklung als Bereicherung ansehen.

Diese Einschätzung ist eine sehr subjektive, vom eigenen sprachlich-ästhetischen Empfinden geprägte Meinung. Eine allgemeingültige Aussage treffen zu wollen, ist sicherlich unangebracht. Deshalb sollte man auch nicht verurteilen, wer bestimmte Erscheinungen des Sprachwandels mitmacht oder nicht. Solange dadurch die Kommunikation nicht ernsthaft gestört wird, sollte jeder sprechen können, wie es ihm beliebt.

Ein Wegfall sprachlicher Mittel verursacht jedoch in der Regel keine "Lücken" im System. Es wird also auch weiterhin möglich sein, auszudrücken, was man vorher ausdrücken konnte, eventuell nur mit anderen Mitteln.

Wenn es aber keine vom Sprecher getroffene Entscheidung ist, bestimmte sprachliche Mittel auf bestimmte Weise zu verwenden, sondern eine Vorschrift "von oben", so provoziert dies anscheinend per se eine ablehnende Reaktion. Ein gutes Beispiel dafür ist die aktuelle Rechtschreibreform. (vgl. Kap. 3.3.2).

 

 

5. Literatur zum Thema

Aufgrund der Komplexität des Themas habe ich zu den meisten Sachverhalten mehrere Werke konsultiert, so daß mir eine Quellenkennzeichnung zu einzelnen Übernahmen sinnlos erschien, da sie sonst sicherlich mehrere hundert Fußnoten gefordert hätte. Wer Interesse an einzelnen Problemen hat, wird sicherlich nicht nur auf eines der angeführten Werke zurückgreifen.

Folgende Literatur habe ich dieser Zusammenfassung zugrunde gelegt. In den meisten angegebenen Werken finden sich ausführliche Bibliographien zur Thematik.

 

  • Bergmann, Rolf / Pauly, Peter / Moulin-Frankhänel, Claudine: Alt- und Mittelhochdeutsch. Arbeitsbuch zur Grammatik der älteren deutschen Sprachstufen und zur deutschen Sprachgeschichte. Von Rolf Bergmann und Peter Pauly. 4., erw. Aufl. Bearb. v. Rolf Bergmann u. Claudine Moulin-Frankhänel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1993. 259 S.
  • Bergmann, Rolf / Pauly, Peter / Moulin-Frankhänel, Claudine: Neuhochdeutsch. Arbeitsbuch zur Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Von Rolf Bergmann und Peter Pauly. 4., erw. Aufl. Bearb. v. Rolf Bergmann u. Claudine Moulin-Frankhänel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1992. 231 S.
  • Boor, Helmut de / Wisniewski, Roswitha: Mittelhochdeutsche Grammatik. Von Helmut de Boor und Roswitha Wisniewski. 9. um eine Satzlehre erw. Aufl. Berlin / New York: de Gruyter, 1984. 210 S. (= Sammlung Göschen; 2209).
  • Braune, Wilhelm / Ebbinghaus, Ernst A. [Bearb.]: Abriss der Althochdeutschen Grammatik. Mit Berücksichtigung des Altsächsischen. Von Wilhelm Braune. 15., verb. Aufl. Bearb. v. Ernst A. Ebbinghaus. Tübingen: Niemeyer, 1989. VII, 65 S., 1 Falttafel. (= Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte; C, Abrisse; 1).
  • Braune, Wilhelm / Ebbinghaus, Ernst A. [Bearb.]: Gotische Grammatik. Mit Lesestücken und Wörterverzeichnis. 19. Aufl. Neubearb. v. Ernst A. Ebbinghaus. Tübingen: Niemeyer, 1981. XII, 205 S., 2 Tafeln. (= Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte; A, Hauptreihe; 1).
  • Bußmann, Hadumod: Lexikon der Sprachwissenschaft. 2., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart: Kröner, 1990. 904 S. (= Kröners Taschenausgabe; 452).
  • Deutsche Rechtschreibung. Hrsg. v. Lutz Mackensen. 28., neubearb. Aufl. Gütersloh: Bertelsmann, 1959. 741 S.
  • Die neue deutsche Rechtschreibung. Verf. v. Ursula Herrmann. völl. neu bearb. u. erw. v. Lutz Götze. m. e. Geleitw. v. Klaus Heller. Gütersloh: Bertelsmann, 1996. 1040 S.
  • Duden. Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter. Bearb. v. d. Duden Schriftleitung. Hrsg. v. Horst Klien. 13. Aufl. Wiesbaden: Steiner, 1953. 78, 690 S.
  • Duden. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 20. völl. neu bearb. u. erw. Aufl. Hrsg. v. der Dudenredaktion auf der Grundlage der amtlichen Rechtschreibregeln. Mannheim et al.: Dudenverlag, 1991. 832 S. (= Duden; 1)
  • Ehrismann, Otfrid / Ramge, Hans: Mittelhochdeutsch. Eine Einführung in das Studium der deutschen Sprachgeschichte. Tübingen: Niemeyer, 1976. VIII, 128 S. (= Germanistische Arbeitshefte; 19).
  • Engelbrecht, Thies Hinrich: Die Urheimat der Indogermanen. Eine prähistorisch-geographische Studie. Glückstadt: Selbstverlag d. Verf., 1933.
  • Glück, Helmut [Hrsg.]: Metzler Lexikon Sprache. hrsg. von Helmut Glück. Stuttgart / Weimar: Metzler, 1993. XX, 711 S.
  • Herrlitz, Wolfgang: Historische Phonologie des Deutschen. Teil I: Vokalismus. Tübingen: Niemeyer, 1970. IX, 110 S. (= Germanistische Arbeitshefte; 3).
  • Hock, Hans Henrich: Principles of Historical Linguistics. Berlin / New York / Amsterdam: de Gruyter, 1986. XIII, 722 S. (=Trends in Linguistics - Studies and Monographs; 34).
  • Kern, Peter Chr. / Zutt, Herta: Geschichte des deutschen Flexionssystems. Tübingen: Niemeyer, 1977. X, 131 S., 4 Falttafeln. (= Germanistische Arbeitshefte; 22).
  • Kluge, Friedrich / Seebold, Elmar [Bearb.]: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. v. Elmar Seebold. 23., erw. Aufl. Berlin / New York: de Gruyter, 1995. LXIV, 921 S.
  • König, Werner: dtv-Atlas zur deutschen Sprache. Tafeln und Texte. Mit 155 farbigen Abbildungsseiten. Graphiker: Hans-Joachim Paul. 10., überarb. Aufl. München: dtv, 1994. 256 S. (= dtv; 3025).
  • Krahe, Hans: Germanische Sprachwissenschaft. Band I. Einleitung und Lautlehre. 3., neu bearb. Aufl. Berlin: de Gruyter, 1956. 147 S. (= Sammlung Göschen; 238).
  • Krahe, Hans: Germanische Sprachwissenschaft. Band II. Formenlehre. 3., neu bearb. Aufl. Berlin: de Gruyter, 1957. 149 S. (= Sammlung Göschen; 780).
  • Lewandowski, Theodor: Linguistisches Wörterbuch. 6. Aufl. Heidelberg / Wiesbaden: Quelle & Meyer, 1994. Band 1. A-H. 415 S., Band 2. I-R. S. 416-882, Band 3. S-Z. S. 883-1287. (= UTB; 1518)
  • Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. Mit den Nachträgen von Ulrich Pretzel. 38., unv. Aufl. Stuttgart: Hirzel, 1992. X, 506 S.
  • Möller, Anneliese: "Ausbruch" der Orthographie aus der Sprachwissenschaft? - Zum Verhältnis von Sprachwissenschaft und Orthographie im 19. Jahrhundert.
    In: Proceedings of the Fourteenth International Congress of Linguists. Berlin / GDR, August 10 - August 15, 1987. Hrsg. v. Werner Bahner, Joachim Schildt, Dieter Viehweger.
    Band III. Berlin: Akademie-Verlag, 1990. S. 2674-2676.
  • Orthographiereform. OBST (Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie) Hrsg. v. Jakob Ossner. Nr. 44, Januar 1991. Osnabrück, [o.V.] 1991.
  • Paul, Hermann: Prinzipien der Sprachgeschichte. 8., unv. Aufl. Tübingen: Niemeyer, 1968. XV, 428 S.
  • Pelster, Theodor / Krebs, Klaus: bsv Deutsch Oberstufe. Sprache und Literatur. München: Bayerischer Schulbuchverlag, 1992. 432 S.
  • Popa-Tomescu, Teodora: Orthographie.
    In: Einführung in die Sprachwissenschaft. Von einem Kollektiv unter der Leitung von Al. Graur. Aus dem Rumänischen übers. u. hrsg. v. Ingeborg Seidel-Slotty.
    Berlin: Akademie-Verlag, 1974. S. 164-174.
  • Saussure, Ferdinand de: Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Hersg. v. Charles Bally und Albert Sechehaye. Unter der Mitwirkung v. Albert Riedlinger. Übers. v. Hermann Lommel. 2. Aufl. m. neuem Register und e. Nachw. v. Peter v. Polenz. Berlin: de Gruyter, 1967. XVI, 294 S.
  • Schmidt, Wilhelm [Hrsg.] / Langner, Helmut [Bearb.]: Geschichte der deutschen Sprache. Ein Lehrbuch für das germanistische Studium. 7., verb. Aufl., erarb. unter der Leitg. v. Helmut Langner. Stuttgart / Leipzig: Hirzel; Stuttgart / Leipzig: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 1996. 383 S., 6 Falttafeln.
  • Schützeichel, Rudolf: Althochdeutsches Wörterbuch. 5., überarb. u. erw. Aufl. Tübingen: Niemeyer, 1995. 340 S., 1 Falttafel.
  • Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Hrsg. v. Werner Besch, Oskar Reichmann, Stefan Sonderegger. 1. Halbband. Berlin / New York: de Gruyter, 1984. XXXIII, 948 S. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 2.1)
  • Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Hrsg. v. Werner Besch, Oskar Reichmann, Stefan Sonderegger. 2. Halbband. Berlin / New York: de Gruyter, 1985. XX S., S. 949- 2251. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 2.2)
  • Studien zur Geschichte der deutschen Orthographie. GL (Germanistische Linguistik) Hrsg. v. Dieter Nerius u. Jürgen Scharnhorst. Nr. 108/109, 1991. Hildesheim: Olms, 1991.
  • Wolff, Gerhart [Hrsg.]: Arbeitstexte für den Unterricht. Deutsche Sprachgeschichte. Für die Sekundarstufe hrsg. v. Gerhart Wolff. Bibliographisch erg. Ausg. 1989. Stuttgart: Reclam, 1989. 190 S. (= Arbeitstexte für den Unterricht; Reclams Universalbibliothek; 9582).

Sowie eigene Mitschriften zu den Proseminaren
"Einführung in die Geschichte der deutschen Sprache" (WiSe 1995/96 und WiSe 1996/97),
"Einführung in die Analyse der deutschen Gegenwartssprache" (SoSe 1996) und
"Einführung in die älteren Sprachstufen des Deutschen" (WiSe 1996/97)
gehalten von Dr. Henning von Gadow, Institut für Deutsche Philologie I der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

 

Fragen, Ergänzungen, Korrekturen, Proteste an:
Jan Wohlgemuth
Postfach 111124
48213 Warendorf

linguist@linguist.de

http://www.linguist.de/Deutsch/gds4.html

http://culturitalia.uibk.ac.at/hispanoteca/Lexikon%20der%20Linguistik/i/INDOGERMANISCH%20%20%20Indogerm%C3%A1nIndogermanisch

 

1. Die indogermanische Sprachfamilie

Urindogermanisch ist die Ursprache, aus der sich alle indogermanischen Einzelsprachen entwickelt haben. Ihr Sprecher kannten die Schrift nicht; sie wurde mit den Methoden der historischen Vergleichung rekonstruiert. Sie muß zuletzt um 3.000 v.Ch. gesprochen worden sein, bevor sie sich in die einzelnen indogermanischen Sprachen, wie Urgriechisch, Uritalisch, Urkeltisch, Urgermanisch usw. aufspaltete. Folgende Karte zeigt die geographische Verbreitung:

Linguisten und Historiker versuchen, die Indogermanen mit einem archäologisch greifbaren Volk zu identifizieren. Die Methode dazu wurde 1877 von Pictet unter dem Namen linguistische Paläontologie eingeführt. Sie besteht darin, vom lexikalischen Bestand und evtl. von Textfetzen, die sich in gleicher Weise in allen altindogermanischen Sprachen erhalten haben, auf die Kultur der Sprecher zu schließen. So versucht man, von der Verwendung des Wortes für Vater, *2tḗr, auf eine patriarchalische Gesellschaft und eine Religion mit einem obersten Vatergott und aus dem Vorhandensein von Wörtern für Haustiere und Getreide auf eine landwirtschaftlich geprägte Kultur zu schließen. In ähnlicher Weise argumentiert aus dem Vorhandensein von Wörtern für Begriffe, die an bestimmte geographische Räume gebunden sind, für eine bestimmte Urheimat der Indogermanen. Zwar haben solche Argumentationen eine gewisse Plausibilität. Beweisen können sie aber leider nur, daß den Indogermanen die betreffenden Begriffe und Verhältnisse bekannt waren, nicht, daß sie deren Kultur geprägt haben. Die Beweissituation ist ähnlich wie bei der angeblichen Korrelation von Sprachfamilien mit menschlichen Genen: Gedanken reisen unabhängig von Personen.

Da keine der historischen indogermanischen Sprachen als direkter Fortsetzer des Ur-Indogermanischen bezeichnet werden kann, ist auch die Urheimat der Indogermanen nicht mit Sicherheit lokalisierbar. Die wahrscheinlichste Hypothese ist 1995 die Assoziation der Ur-Indogermanen mit der Sredny-Stog-Kultur, die von -4.500 - -3.500 in der südrussischen Steppe nördlich des Schwarzen Meeres herrschte. Andere verlegen die Urheimat nach Polen oder Ostanatolien.

Sicher ist, daß die Indogermanen am Ende der Jungsteinzeit und dann in der Bronzezeit ganz Europa sowie weite Teile West- und Südasiens besiedelten. In keinem dieser Gebiete sind sie autochthon; überall trafen sie auf eine ältere Bevölkerung. Z.B. wohnten in Schottland die vorkeltischen Pikten; im Mittelmeerraum, z.B. auf Malta nachweisbar, gab es mediterrane Kulturen, in Iberien saßen die Iberer, in Kleinasien die Hattier, in Indien die Draviden. Die Urbewohner Germaniens sind für den blonden, blauäugigen Typ verantwortlich; er ist wohl nicht indogermanisch. Die Indogermanen setzten in den besiedelten Gebieten indogermanische Sprachen gegenüber den Substraten durch. Nach Mitteleuropa abgewanderte Indogermanen (z.B. Ur-Kelten, -Germanen und -Italiker) können die Träger der Kultur sein, die die vorindogermanische Trichterbecherkultur ablöste und dort -3.000 - -2.000 bestand. Vom Beginn des 2. Jt. v.Ch. an werden indogermanische Sprachen in Anatolien und Griechenland historisch faßbar. Die Indogermanen hatten bereits (mündlich überlieferte) metrische Dichtung, von der sich Spuren in einzelnen Tochtersprachen finden.

Der folgende Stammbaum stellt die wichtigsten indogermanischen Sprachen dar:

Die Anordnung der Äste und Zweige des Baums folgt teilweise dem Konzept des Dialektkontinuums. Das betrifft insbesondere die Abteilungen ‘Arisch - Balkanisch’ einerseits sowie ‘Italisch - Keltisch - Baltisch - Slavisch’ andererseits. Anatolisch dagegen ist von der übrigen Familie relativ deutlich getrennt.

 

2. Entsprechungen und Rekonstruktion

Die folgende Tafel illustriert an einigen Beispielen, wie man anhand regelmäßiger Entsprechungen Teile des indogermanischen Lexikons rekonstruiert.

Ebenso rekonstruiert man auch die Morphologie, wie die folgende Tafel illustriert:

Gleichzeitig wird dabei die Phonologie rekonstruiert. Z.B. enthält das indogermanische Phonemsystem:

  • palatales vs. velares k: vgl. Tabelle ‘Lexikon’ a), b) mit c).
  • Diphthonge ei und oi: vgl. Tabelle ‘Lexikon’ f), g).

 

3. Die antiken Sprachen Italiens

Lateinisch gehört zum italischen Zweig der indogermanischen Sprachfamilie, stammt also vom Uritalischen ab. Dieses sowie die Zweige ‘Latino-Faliskisch’ und ‘Sabellisch’ (= Oskisch-Umbrisch) sind selbst nicht belegt. Abgesehen von den romanischen Sprachen, sind alle italischen Sprachen in der Antike ausgestorben.

In Italien wurden im 1. Jt. v.Ch. eine Reihe von Sprachen gesprochen, die genetisch ganz heterogen waren. Die Karte gibt die Sprachgebiete etwa im 3. Jh. v.Ch. (also lange bevor die Römer ganz Italien unterworfen hatten) an.

In Italien wurden seit Beginn der historischen Zeit verschiedene Sprachen gesprochen. Im Zuge der politischen Entwicklung kam Latein mit allen in Kontakt und hat daher auch von allen Lehnwörter, besonders aus dem Griechischen.

Die antiken Sprachen Italiens lassen sich genetisch wie folgt klassifizieren:

  • nicht-indogermanisch: Etruskisch, Punisch;
  • indogermanisch, aber nicht-italisch: Keltisch, Messapisch, Griechisch;
  • italisch: Faliskisch, Oskisch, Umbrisch u.a.
  • nicht zuordenbare Trümmersprachen: Ligurisch, Rhaetisch, Pikenisch, Elymisch, Sikanisch, Sikulisch ...

 

3.1. Nicht-indogermanische Sprachen

Etruskisch ist vom 7.Jh. v.Ch. bis zum 2.Jh. n.Ch. belegt. Die Etrusker sind vermutlich Anfang des 1. Jt. v.Ch. aus der Ägäis nach Italien eingewandert. Sie wohnten in Mittelitalien (Etrurien, heute Toskana). Sie beherrschten die römische Geschichte mindestens vom 7. Jh. bis ca. 400 v.Ch. Sie hatten Literatur. Sie schrieben in einem westgriechischen Alphabet, das sie von den Griechen gelernt hatten. Man kann die Texte daher lesen, aber nur bruchstückweise verstehen.

Punisch ist die Sprache der Punier, ein phönizischer Dialekt. Die Punier stammen aus dem Libanon und haben in Nordafrika eine Kolonie gegründet. Von dort breitet sich das punische Reich über Kalabrien, Sizilien, Korsika, Sardinien und Spanien aus. Die Hauptstadt ist Karthago. Das Reich wird -146 von den Römern zerstört.

 

3.2. Nicht-italische indogermanische Sprachen

Keltisch wird spätestens seit 400 v.Ch. in Oberitalien gesprochen. Zu Beginn des 2. Jh.v.Ch. werden die Kelten von Rom unterworfen und romanisiert. Es gibt nur Inschriften und fremdsprachliche Quellen.

Messapisch wird in Apulien (antikes Kalabrien) gesprochen. Die Inschriften sind nur teilweise verständlich.

Griechisch wird seit der ionischen Kolonisation von Kampanien und Ostsizilien sowie der dorischen von Apulien und Südwestsizilien (ca. 750-550 v.Ch.) in Süditalien (“Magna Graecia”) gesprochen. Die überwiegend gesprochenen Dialekte sind dorisch. Der Sprachraum wird seit dem 3.Jh. v.Ch. zugunsten von Latein eingeschränkt. Allerdings setzt das Latein sich nur langsam durch. Noch Tacitus (Ende 1. Jh.) bezeichnet Neapel (griech. néa-pólis “Neu-stadt”) als urbs quasi Graeca “eine i.w. griechische Stadt”. Griechisch ist in einigen unteritalienischen Bergdörfern (Südkalabrien östl. von Reggio und südl. von Lecce) noch bis Ende des 20. Jh. gesprochen worden.

Umgekehrt hat Griechisch starken Einfluß auf das Latein. Zu den ältesten Lehnwörtern aus dem Griechischen zählen die folgenden:

Seit Mitte des 2. Jh.v.Ch. werden griech. θ, φ, χ durch <th ph ch> wiedergegeben.

Seit Mitte des 1. Jh.v.Ch. wird griech. υ nicht mehr durch <V>, sondern durch <Y> (neuer Buchstabe!) wiedergegeben.

 

3.3. Italische indogermanische Sprachen

Die anderen indogermanischen Völker (Griechen, Hethiter, Arier) gelangten durch Wanderungen in ihre in Südeuropa oder Südostasien gelegenenen Wohnsitze. Das gilt auch für die Italiker. Sie wanderten aus der italisch-keltisch-germanischen Dialektgemeinschaft ab nach Italien ein, vermutlich (wie die Griechen) in mehreren Schüben im 2. Jt.v.Ch. Die italischen Sprachen sind keine Vorstufen des Latein., sondern gleichzeitige Sprachen. Oskisch z.B. war vor den Bundesgenossenkriegen (91 - 88 v.Ch.) stärker vertreten als Latein. Zur Zeit des Augustus jedoch waren bereits alle außer Oskisch schon durch Latein verdrängt. Alle außer Oskisch und Umbrisch sind nur sehr fragmentarisch bezeugt.

Die Verwandtschaftsverhältnisse der italischen Sprachen und des Lateinischen im besonderen sind in folgendem Stammbaum dargestellt:

Ein unetikettierter Knoten im Baum bedeutet eine engere Zusammengehörigkeit der von ihm abhängigen Sprachen, ohne daß diese mit einer Sprache identifiziert werden könnte.

Venetisch ist eine indogermanische Sprache des italischen Zweigs, die in Venetien (heute Venetien und Slowenien) gesprochen wurde und auf etwa 200 Inschriften aus dem 6. bis 1. Jh. v.Ch. erhalten ist. Die Texte sind in einem nordetruskischen Alphabet abgefaßt, linksläufig geschrieben und nur bruchstückweise verständlich.

Oskisch ist eine italische Sprache, die von den Samniten in Zentral- und Süditalien (Samnium, Kampanien, schwach in Lukanien, Nordapulien) gesprochen wurde. Belegt vom 5. Jh. v. Ch. (Münzlegenden) bis Mitte des 1. Jh. n. Ch. (Pompei). Über 200 Inschriften; die meisten linksläufig in einem eigenen, aus dem westgriechischen abgeleiteten Alphabet; einige im lateinischen (Tabula Bantina) oder griechischen Alphabet.

Umbrisch ist eine italische Sprache, die in Umbrien (nördl. Zentralitalien, östlich der Toscana) gesprochen wurde. Ursprünglich wohnten die Umbrer auch in der Toscana, wurden von dort aber durch die einwandernden Etrusker vertrieben. Die Sprache ist vor allem durch die iguvinischen Tafeln (Ritualtext) bekannt.

Latein war mit den anderen italischen Sprachen zu verschiedenen Graden wechselseitig verständlich, mit einigen wie Umbrisch sicher überhaupt nicht. Es hat jedoch von ihnen wie auch von den größeren in Italien gesprochenen Sprachen Lehnwörter aufgenommen, die wegen der genetischen Nähe oft von echt lateinischen Wörtern nicht so leicht zu unterscheiden sind.

Wann die anderen Sprachen Italiens letztlich ausgestorben sind, ist nicht mehr feststellbar; feststellen kann man nur, bis wann sie geschrieben worden sind. Für alle außer Latein und Griechisch endet die schriftliche Verwendung spätestens 200 n.Ch. Bei Beginn des Mittelalters werden sicher nur noch Latein (bzw. Urromanisch) und Griechisch gesprochen.

ico.htm

http://www.uni-erfurt.de/sprachwissenschaft/personal/lehmann/CL_Lehr/RomGesch/RomGesch_Idg.html

Die Indoeuropäer und ihre Entdeckung durch die Wissenschaft
Freigegeben am Donnerstag, 07.März. @ 10:32:18 CET von
bjorgulf


Geschichte und VergangenheitVon Kurt Oertel

Die Begriffe "indogermanisch" bzw. indo-europäisch tauchen in der Fachliteratur häufig auf. Viele Interessierte haben aber nur verschwommene Vorstellungen von der genauen Bedeutung Begriffe. Hier werden nicht nur die historischen Hintergründe der
Indoeuropäer selbst, sondern auch die sehr spannende Geschichte ihrer Entdeckung umfassend, aber allgemeinverständlich geschildert.

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Im Jahre 1786 hielt Sir William Jones, renommierter Orientalist und zum damaligen Zeitpunkt oberster britischer Richter in Indien, vor der Royal Asiatic Society in Kalkutta einen folgenreichen Vortrag. Jones hatte sich als einer der ersten Europäer intensiv mit dem Sanskrit, der alten heiligen Sprache Indiens, beschäftigt und dabei die erstaunliche Entdeckung gemacht, dass das Altindische in Wortschatz und Grammatik größte Ähnlichkeit mit dem Lateinischen und Altgriechischen aufweist.
Er erkannte ferner, dass diese Parallelen auch in den keltischen und germanischen Sprachen, sowie im Persischen nachweisbar sind. Jones zog daraus den naheliegenden Schluss, dass all diese Sprachen verwandt sein mussten.

Dass einige europäische Sprachen große Gemeinsamkeiten aufweisen, war natürlich schon früher aufgefallen. Jeder erkennt auf Anhieb die Ähnlichkeiten zwischen dem Italienischen, Spanischen und Französischen, und von jeher bestand kein Zweifel daran, dass diese Sprachen das Lateinische als gemeinsame Mutter haben mussten. Bereits 1610 veröffentlichte der französische Gelehrte Joseph Scaliger einen Vergleich der europäischen Wörter für "Gott" und markierte dadurch einige der wesentlichen Sprachgruppen Europas, nämlich das Romanische (lateinisch "deus", italienisch und spanisch "dio", französisch "dieu"), das Germanische (englisch und niederländisch "god", skandinavisch "gud"), das Slawische ("bog") und das Griechische ("theos"). Weitere Sprachen zog er nicht in seine Betrachtungen mit ein. Er bestritt auch jede mögliche weitere Verwandtschaft der genannten Sprachen. Die Ähnlichkeit zwischen dem lateinischen "deus" und dem griechischen "theos" entging ihm dabei genauso, wie die Tatsache, dass das iranische Wort für Gott ("bog") mit dem slawischen identisch ist. Die Existenz keltischer Sprachen scheint ihm überhaupt nicht bekannt gewesen zu sein.

Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert entdeckten etliche Wissenschaftler unabhängig voneinander weitere auffällige Ähnlichkeiten, aber alle beschränkten sich lediglich auf eher zufällig erkannte, gemeinsame Aspekte der europäischen Sprachen. Niemand ahnte bereits die ganze Tragweite dieser Entdeckung.

Da in jenen Tagen die biblischen Schriften auch für die Gelehrten eine unanfechtbare Autorität darstellten, führte man die Existenz der Völker und ihrer Sprachen mit einer heute nur schwer nachvollziehbaren Selbstverständlichkeit auf die Völkertafel des Alten Testamentes (1 Mose 10) zurück, wo die Abstammung der gesamten Menschheit auf Noahs drei Söhne Sem, Ham und Japhet zurückgeführt wird. Die Sprachwissenschaft der Neuzeit hat dem insofern Rechnung getragen, als sie die hebräisch-arabische Sprachfamilie "semitisch" und die ägyptisch-kussitischen Sprachen "hamitisch" genannt hat. Dass man die übrigen Sprachen der Welt aber nicht unter dem Begriff "japhetisch" zusammenfassen kann, das wurde schon bei den ersten ernsthaften Vergleichen klar.

Aber an genau diesem Punkt scheiterte noch unrühmlich der britische Arzt James Parsons, der 1767 einen erneuten sprachvergleichenden Vorstoß unternahm. Er verglich darin die Zahlwörter der ihm bekannten Sprachen, und deren Ähnlichkeit in bestimmten Fällen muss auch einem völligen Laien geradezu ins Auge springen. Nehmen wir z.B. die Zahl drei, die im Irischen, Russischen und im Indischen "tri" lautet, im Altgriechischen "treis", im Lateinischen "tres", im Niederländischen "drie", im Französischen "trois", im Litauischen "trys", im Albanischen, Schwedischen und Italienischen "tre".

Parsons schloss daraus auf eine gemeinsame Abstammung der Sprachen Europas, Indiens und Persiens, deren Ausgangspunkt er in Armenien ansetzte, weil Noahs Arche schließlich dort gestrandet war und seine Söhne (unter ihnen Japhet!), dort von Bord gegangen waren. Von dieser letzten Begründung einmal abgesehen, hätte Parsons mit seiner Erkenntnis durchaus zum Stammvater der modernen Sprachwissenschaft werden können, wenn im weiteren Verlauf des Buches nicht seine Phantasie völlig mit ihm durchgegangen wäre. Er zählte fälschlicherweise nicht nur das Ungarische, sondern auch die Eingeborenensprachen Nordamerikas zu dieser verwandten Sprachgruppe, versuchte außerdem, die entscheidenden sprachwissenschaftlichen Beweise mit Hilfe von Bibelzitaten zu führen und kam letztendlich zu dem bizarren Ergebnis, dass die Urform all jener "japhetischen" Sprachen das keltische Irisch gewesen sein müsse. Somit bleibt sein Werk trotz des hoffnungsvollen Ansatzes eine eher belächelte Kuriosität der Wissenschaftsgeschichte.

Der eingangs erwähnte William Jones war derjenige, dessen Erkenntnisse auch der neueren Forschung standhalten. Viel weiter, als zu der beschriebenen Erkenntnis gelangte allerdings auch er nicht. Das blieb dem Deutschen Franz Bopp vorbehalten, der 1816 detaillierte grammatische Vergleiche anstellte und diesen Erkenntnissen dadurch ein systematisches Fundament verschaffte, das zur Grundlage der modernen vergleichenden Sprachwissenschaft wurde.

Die Ergebnisse waren eine wissenschaftliche Sensation. Es stand nun nicht nur endgültig fest, dass alle europäischen Sprachen (mit Ausnahme des Baskischen, Ungarischen, Finnisch/Estischen und Maltesischen), wie auch die wichtigsten Sprachen Indiens und Persiens (damit auch das Kurdische, Afghanische und Armenische) einer einzigen, eng verwandten Sprachfamilie angehörten, sondern auch, dass sie alle auf eine gemeinsame Urform zurückgehen mussten. Für diese Sprachfamilie prägte man das Kunstwort "indogermanisch", und zwar ihrer extremsten geographischen Ausbreitung wegen. Die lag östlicherseits in Indien, westlicherseits in
Island, wo heute noch eine altertümliche germanische Sprachform gesprochen wird. Im deutschsprachigen Raum ist der Begriff "indogermanisch" bis heute gebräuchlich, und der entsprechende Zweig der Sprachwissenschaft heißt Indogermanistik. Im internationalen Sprachgebrauch aber hat sich die Bezeichnung "indoeuropäisch" eingebürgert, die auch wir im folgenden verwenden werden, da sie etwas weniger missverständlich ist. Denn der sprachwissenschaftliche Laie denkt bei dem Begriff "Indogermanen" wahrscheinlich zunächst, dass es sich hier um einen speziellen Stamm der Germanen handeln muss. Das aber ist, wie wir sehen werden, grundfalsch.

Die Entdeckung dieser Sprachverwandtschaft warf aber sofort die nächste Frage auf. Wenn sich all diese Sprachen auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen ließen, dann muss es auch ein Volk gegeben haben, das diese Sprache gesprochen hat, eben die "Indoeuropäer", die damit - zumindest sprachlich - die direkten Vorfahren der Inder, Europäer, Perser usw. waren. Aber wann hatten sie gelebt, wo hatten sie gesessen, und in welcher Form war ihre Ausbreitung vonstatten gegangen?

Die nun fieberhaft einsetzende Suche nach der Urheimat der Indoeuropäer ist eines der spannendsten, aber auch kompliziertesten Kapitel der Wissenschaftsgeschichte, das eine buchstäblich unüberschaubare Menge von Literatur hervorgebracht hat. Wir können das Thema hier nur skizzenhaft anreißen. Vor allem dürfen wir dabei nicht vergessen, dass es sich um eine Entdeckung der Sprachwissenschaftler, und nicht etwa der Historiker oder Archäologen handelte. Das hat sich im wesentlichen bis heute nicht geändert, denn die archäologischen Spuren sind mehr als spärlich.

Allerdings gelang es der Sprachwissenschaft, ein erstaunlich anschauliches Bild von der Kultur der Indoeuropäer zu gewinnen. Wie kann so etwas nur mit Hilfe von Sprachforschung gelingen? Es ist einfacher, als man denkt. Man muss nur darauf kommen: wenn man z.B. in allen Einzelsprachen dasselbe Wort für Achse (lateinisch "axis", griechisch "axón", altindisch "aksah"), außerdem Rad (lateinisch "rota", litauisch "ratas", altindisch "rathas") und Nabe (altindisch "nabhis", baltisch "nabis") entdeckt, dazu das Wort für Joch (gotisch "jug", lateinisch "iugum", persisch "jug", altindisch "yugam") und Kuh (englisch "cow", altindisch "gauh", armenisch "kov"), dann lässt sich daraus problemlos ableiten, dass die Indoeuropäer bereits von Ochsen gezogene Wagen kannten. Wenn man Namen für die Dinge hat, kennt man auch die Dinge selbst.

Nicht in allen Fällen ist die Ableitung so einfach, wie in dem gezeigten Beispiel. Die Verfeinerung dieser Methode machte im Lauf der Jahrzehnte aber solche Fortschritte, dass es heute nicht nur Wörterbücher und Grammatiken dieser indoeuropäischen Ursprache gibt, sondern es hat sich auch folgendes Kulturbild unserer entfernten Vorfahren herausgeschält.

Sie waren ein Volk von Viehzüchtern, das aber auch schon einfachen Ackerbau kannte. Sie waren nicht richtig sesshaft, waren aber auch keine reinen Nomaden im heutigen Sinn des Wortes, aber doch so mobil, dass sie ihren Wohnort je nach Zustand der Weiden wechselten. Sie hatten eine patriarchalische Gesellschaftsform, lebten in Sippengemeinschaften, und die jungen unverheirateten Männer waren in kriegerischen Männerbünden organisiert, denen Ruhm im Kampf als höchstes Gut galt. Ihre Hauptwaffe war die sorgfältig bearbeitete steinerne Streitaxt. Dichtkunst, Musik und Gesang müssen in bereits gleichermaßen hohem Ansehen wie hoher Kunst gestanden haben. Auch der aus Honig gebraute Met muss sich schon großer Beliebtheit erfreut haben, denn das Wort findet sich durchgehend im Sprachschatz aller indoeuropäischen Völker.

Bei der Untersuchung späterer indoeuropäischer Gesellschaften, stieß man auf ein seltsames Phänomen. Überall entdeckte man eine Teilung in drei soziale Schichten: Priester, Krieger und freie Bauern. Keiner dieser drei Stände scheint ursprünglich höher als ein anderer angesehen worden zu sein, sondern das Modell wurde wohl als sinnvolle Aufgabenverteilung zur besseren Organisation der Gesellschaft betrachtet. Bei den Römern unterschied man zwischen "flamines" (Priestern), "milites" (Soldaten) und "quirites" (Bürgern). In seinen Berichten über den Gallischen Krieg beschreibt Caesar uns die soziale Dreiteilung der Kelten. Sie ist identisch: "druides" (Druiden), "equites" (berittene Kämpfer) und "plebes" (die Bauern). Bei den antiken Griechen finden wir dieselbe Aufteilung. Am einflussreichsten hat sich diese Modell in dem Kastensystem Indiens erhalten: die vier heute noch entscheidenden Kasten lassen sich bereits in den Veden, den ältesten heiligen Schriften Indiens, nachweisen: "brahmanas" (Priester), "ksatriyas" (Krieger) und "vaisyas" (Bauern und Viehzüchter). Die vierte Kaste der "sudras" bestand aus den Ureinwohnern, auf die die Indoeuropäer im Lande gestoßen waren. Die "pariyas" (Unberührbare) bilden im Gegensatz zur landläufigen Meinung keine eigene Kaste, sondern ihr geringer sozialer Status entsteht aus der Tatsache, dass sie gerade keiner Kaste angehören. Das spricht dafür, dass sie erst in sehr viel späterer Zeit nach Indien gelangt sind. Der Ausdruck "Kaste" ist dabei keine glückliche Übersetzung. Im Indischen benutzt man seit alters her den Begriff "
varna" (Farbe). Das bezieht sich nicht etwa auf die Hautfarbe, sondern auf eine offenbar sehr alte Farbregelung bei der Kleidung. Das Weiß der Brahmanen ist auch bei den altrömischen "flamines" und den keltischen Druiden nachweisbar. Diese Dreiteilung besteht noch das ganze europäische Mittelalter hindurch (Klerus, Ritter, Bauern), bis Martin Luther sie in der Neuzeit auf die griffige Formel "Lehrstand, Wehrstand, Nährstand" gebracht hat. Wenn wir diese Dreiteilung bis vor kurzem noch als völlig normal oder nicht weiter bemerkenswert empfanden, beweist das nur, wie tief indoeuropäisches Denken noch in uns nachwirkt. Diese Dreiteilung muss sich offensichtlich bereits bei den frühen Indoeuropäern gefunden haben.

Dass sich die enge Verwandtschaft nicht nur auf die rein sprachliche Seite beschränkt, sondern sich auch an sozialen Einrichtungen ablesen lässt, machen z.B. die engen inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen den frühen indischen Gesetzestexten und dem keltischen Recht klar, das in Form der sogenannten "Brehon Laws" erstmals im 7. und 8. Jahrhundert n.Chr. in Irland aufgezeichnet wurde. Wenn man den zeitlichen und räumlichen Abstand beider Quellen bedenkt, wirft das ein bezeichnendes Licht auf die Exaktheit und das Traditionsbewusstsein mündlicher Überlieferungstechniken früherer Jahrhunderte, von denen wir uns in Zeiten heutiger schriftlicher Verfügbarkeit jeder Information kaum noch ein Bild machen können. So wurde es z.B. als Zeichen des Niedergangs empfunden, dass der Gesetzessprecher in der isländischen Kolonie auf Grönland "nur" noch zwei Tage brauchte, um alle Gesetze aus dem Kopf vortragen zu können, während man sich doch daran erinnerte, dass derselbe Vortrag auf Island selbst noch drei Tage gedauert hatte. Auch von den keltischen Druiden wird berichtet, dass das Erlernen aller nötigen Fähigkeiten zwanzig Jahre dauerte und ausschließlich auf mündlicher Weitergabe beruhte, was eine ungeheure Gedächtnisleistung vorausgesetzt haben muss.

Die wichtigste und entscheidendste kulturelle Leistung der Indoeuropäer aber scheint die Zähmung des Pferdes gewesen zu sein. Das Pferd war zwar in ganz Europa als jagdbares Wild bekannt und geschätzt, aber kein anderes Volk war vorher auf die Idee gekommen, sich seiner Fähigkeiten zu bedienen. Noch bis vor kurzem war man sich weitgehend einig darüber, dass dies das Verdienst der Indoeuropäer war. Neueste Forschungsergebnisse stellen das zwar wieder
vereinzelt in Frage, und es scheint Hinweise darauf zu geben, dass die iberische Halbinsel der Ort war, wo Pferde erstmals genutzt wurden. Aber selbst, wenn sie nicht die ersten waren, die das Pferd domestizierten, so scheint doch der militärische Einsatz und die Verbreitung des domestizierten Pferdes auf die Indoeuropäer zurückzugehen. Und wir wissen, dass das Pferd bei ihnen eine fast religiöse Verehrung genoss. Die heute noch geläufige Anschauung von dem Pferd als edlem und verehrungswürdigem Tier ist ein direktes Erbe der alten Indoeuropäer. Ob sie die Pferde bereits reiten konnten, ist nicht sicher. Aber wir wissen, dass sie sie vor ihre leichten und schnellen zweirädrigen Streitwagen spannten (eine weitere Erfindung der Indoeuropäer), was ihnen eine enorme Beweglichkeit und Überlegenheit sicherte. Wo immer in den folgenden Jahrhunderten erstmals der Streitwagen auftauchte, waren es Indoeuropäer, die ihn lenkten - auch im Alten Orient.

Ob sie die Bronze oder zumindest das Kupfer schon gekannt haben, ist zweifelhaft. Auf keinen Fall waren sie bereits in der Lage, dieses Metall zu bearbeiten (denn fast jede indoeuropäische Sprache hat ein anderes Wort für Schmied). Das Eisen kannten sie mit Sicherheit noch nicht. Genau dieser Umstand versetzt uns in die Lage, den Zeitpunkt der Trennung in verschiedene Einzelsprachen halbwegs genau zu bestimmen, denn über den Beginn der Bronze- und Eisenzeit in den einzelnen Gegenden sind wir gut informiert. Ganz grob lässt sich sagen, dass die Indoeuropäer ungefähr gegen 3000 v.Chr. in Bewegung geraten sein müssen.

Aber von wo waren sie aufgebrochen? All diese faszinierenden Erkenntnisse brachten schließlich noch keinen endgültigen Aufschluss über die Lage ihrer Urheimat. Mit derselben vergleichenden sprachwissenschaftlichen Methode begann man deshalb nun, die Begriffe für deren Umwelt zu untersuchen. Welche Bäume, welche Tiere kannten sie? Hatten sie Begriffe für Sommer und
Winter, Gebirge, Meer, Wüste, Schnee, Sumpf und See?

Als Ergebnis konnte man etliche Gegenden Europas und Asiens bereits ausschließen. Als gutes Beispiel für die Schwierigkeit solcher Untersuchungen sei hier das bekannte Buchenargument aufgeführt: in fünf indoeuropäischen Sprachgruppen lässt sich dasselbe Wort für "Buche" nachweisen. Da dieser Baum aber nur westlich einer Nord-Süd-Linie zwischen Kaliningrad und der Krim existiert, schien das ein klares Argument dafür zu sein, dass die Indoeuropäer nur westlich dieser Linie gelebt haben konnten. Das Problem dabei ist aber, dass wir nicht mit Sicherheit wissen können, ob die botanische Bezeichnung denselben Baum meinte, den wir heute als Buche kennen. Denn selbst wir bezeichnen ja schon zwei völlig verschiedene Bäume mit diesem Wort: die mit der Eiche verwandte Rotbuche und die mit der Erle verwandte Hainbuche. Erst vor kurzem ist der Nachweis erbracht worden, dass es sich in diesem Fall nicht um ein gemeinindoeuropäisches Wort handelt, sondern dass erst die westwärts wandernden Stämme das Wort prägten.

Und man verfiel noch auf eine andere scharfsinnige Methode. Es ist eine alte Erfahrung, dass Völker unterschiedlicher Sprache, die aber in enger Nachbarschaft leben, Wörter aus der Sprache des jeweils anderen Volkes übernehmen. Man spricht in diesem Fall von Entlehnungen bzw. Lehnwörtern. So hat z.B. das Deutsche im frühen Mittelalter zahlreiche lateinische Wörter übernommen, deren Herkunft den meisten von uns kaum noch bewusst ist und die aucvh nicht mehr als Fremdwörter wahrgenommen werden (Pfeil, Keller, Fenster u.v.a.). Heute gelangen entsprechend viele englische Wörter ins Deutsche, sehr zum Ärger mancher Zeitgenossen. Das ist aber ein völlig normaler Prozess, der nicht steuerbar ist, und der auch nicht durch Gesetzgebungen verhindert werden kann, wie man es seit einiger Zeit in Frankreich versucht.
Diese Entlehnungen hat es zu allen Zeiten und in allen Sprachen gegeben. Sie geben dem Sprachwissenschaftler nicht nur wertvolle Aufschlüsse über die mögliche Nachbarschaft alter Völker, sondern auch über die Ausbreitung technischer Kenntnisse. Wenn man z.B. nachweisen kann, dass Volk A den Begriff für Eisen von Volk B übernommen hat, kann man daraus gleichzeitig ableiten, dass Volk A die Eisenverarbeitung vorher überhaupt nicht kannte, denn sonst hätten sie es nicht nötig gehabt, auch das Wort selbst zu übernehmen. Man untersuchte also all jene Sprachen, die als mögliche Kandidaten für eine frühe Nachbarschaft mit den Indoeuropäern in Frage kamen: die semitischen, kaukasischen, uralischen und finnischen Sprachen, alles solch eigenständige Sprachfamilien wie das Indoeuropäische. Und man wurde fündig, man entdeckte tatsächlich die erhofften Entlehnungen, die zusätzliches Licht auf Herkunft und Ausbreitungsweg der Indoeuropäer warfen.

Als Ergebnis all dieser Forschungen kristallisierte sich heraus, dass die ursprüngliche Heimat der Indoeuropäer irgendwo in dem weiten Gebiet zwischen der südöstlichen Ostsee und dem Schwarzen Meer gelegen haben muss.
Ob nun etwas mehr in der einen oder anderen Richtung, darüber entbrennen bis zum heutigen Tag heftige Diskussionen. Die Beweislage wird umso schwieriger, je kleiner man das vermutete Ursprungsgebiet annimmt. Es spricht deshalb einiges dafür, dass das Indoeuropäische sich nicht von einem kleinen Zentrum ausgebreitet, sondern allmählich in einem größeren Gebiet herausgebildet hat. Auch das östliche Mitteleuropa ist als Herkunftsgebiet nicht völlig auszuschließen. Die Gewässer- und Bergnamen dieser Gegenden sind nämlich ausschließlich indoeuropäischen Ursprungs. Da solche Flurnamen (Toponyme) außerordentlich zäh anhaften und erfahrungsgemäß auch von neuen Einwanderern immer übernommen werden, spricht viel dafür, dass die ersten sesshaften (!) Bewohner Ostmitteleuropas Indoeuropäer waren. Obwohl dieses Argument schwer wiegt, sind sich die meisten Forscher aber dennoch in einer östlicheren Zuordnung einig. Als Favorit gelten weiterhin die weiten osteuropäischen Gebiete Südrusslands und der Ukraine, sowie die nördlichen Teile des Kaukasus.
Nicht mehr haltbar ist die Theorie der norddeutschen Tiefebene als Ursprungsgebiet, die in den dreißiger Jahren als unumstößliche Wahrheit propagiert wurde. Wäre nämlich Norddeutschland jene geheimnisvolle Urheimat, und wären die Germanen die direktesten Nachfahren der Ur-Indoeuropäer, dann müssten die germanischen Sprachen noch die größte Ähnlichkeit mit der ältesten erschlossenen Sprachstufe des Indoeuropäischen haben. Genau das Gegenteil ist aber der Fall, was beweist, dass gerade die Germanen einen langen und wohl komplizierten Entwicklungsweg hinter sich haben.

Zu naheliegend war aber gerade für die braunen Machthaber die Gleichsetzung von Indoeuropäern und "Urgermanen", die vom Norden her den Rest der Welt durchströmten und sich als "arische" Kulturbringer betätigten. Und damit sind wir nun bei einem Begriff angelangt, der einer dringenden Klärung bedarf: den Ariern.

Diesen Begriff haben die Nationalsozialisten nicht erfunden, sondern lediglich aufgenommen und völlig falsch benutzt. Die Klärung an dieser Stelle wäre nicht nötig, wenn der Begriff mit dem Ende des Dritten Reiches ausgestorben wäre. Aber die Sprachwissenschaftler haben sich diesen Begriff nicht von den Rechten aus der Hand schlagen lassen, sondern ihn mutig verteidigt, da er eine wichtige Rolle spielt. Er wird bis heute ganz unbefangen benutzt, und jeder Student der Indogermanistik lernt im ersten Semester, was es damit auf sich hat.

Jene indoeuropäischen Stämme, die gegen ca. 1500 v.Chr. im Norden Indiens und Persien erschienen, nannten sich selbst "Aryas" (die Edlen, Vornehmen, Gastfreien), um sich von der einheimischen Urbevölkerung abzusetzen. Das Wort
Iran (ursprünglich "Ayran") bedeutet nichts anderes als "Land der Arier". Und es spricht viel dafür, dass die keltische Bezeichnung "Eire" (früher: "Erin") für Irland, sowie der Name der Armenier ebenso wie das Wort Aristokratie (Herrschaft der Vornehmen) und der Name der keltischen Göttin "Arianrhod" auf dieselbe Wurzel zurückgeht. Sogar in einer frühen schwedischen Runeninschrift findet sich noch der Begriff "ariostR" (Edler). Es handelt sich also um eine Selbstbezeichnung eines Teiles der indoeuropäischen Völker, die genauso von den anderen Völkern Persiens und Indiens auf die Indoeuropäer angewandt wurde. Deshalb bezeichnet die Sprachwissenschaft jene Sprachgruppe der Indoeuropäer, aus der sich die indischen, kurdischen, afghanischen und iranischen Sprachen und Dialekte entwickelt haben, als indo-arisch.

Es kann gar nicht genug betont werden, dass es sich hier um einen rein sprachwissenschaftlichen Begriff handelt, der nichts, aber auch nicht das Geringste, mit "Rasse", Volk oder Hautfarbe zu tun hat. Indoeuropäer bzw. Arier bezeichnet lediglich ein Individuum, das mit einer indoeuropäischen bzw. arischen Muttersprache aufgewachsen ist. Im 19. Jahrhundert aber war es zu einer unheilvollen Verquickung der Begriffe Sprache und Volk bzw. "Rasse" gekommen. Und diesen falschen Sachverhalt haben die nationalsozialistischen Rassefanatiker noch böswilliger entstellt. Sie bezeichneten plötzlich ausgerechnet die Nordeuropäer als Arier und setzten den Begriff auch noch mit einem äußeren Erscheinungsbild gleich - blond und blauäugig. Sie haben diesen verhängnisvollen Irrtum zwar nicht erfunden, aber ihn zur herrschenden Lehrmeinung ihrer Ideologie gemacht. Dabei verkannten sie nicht nur völlig, dass die einzige in Europa lebende Völkerschaft, die sich zu Recht "arisch" nennen darf, die Sinti und Roma sind (da sie immer noch ihre nordindische Heimatsprache sprechen). Sie übersahen auch, dass die Bezeichnung "indoeuropäisch" bzw. "indogermanisch" genauso auf einen Schwarzen aus Los Angeles wie auf einen norwegischen Bauern zutrifft und mit demselben Recht auf einen mit dem Jiddischen aufgewachsenen polnischen Juden, denn das Jiddische ist ein relativ ursprünglicher mittelhochdeutscher Dialekt, der so gesehen ein "reineres" und ursprünglicheres Deutsch darstellt, als die Sprache Goethes. Es handelt sich eben um einen rein sprachwissenschaftlichen Begriff, und deshalb dürfen wir ihn in diesem Sinne auch weiterhin unvoreingenommen benutzen.

Eine eher kuriose Episode am Rande dieses Themas war die Eingebung des PKK-Führers Öcalan Mitte der 90er Jahre, in Deutschland das "Ariertum" der Kurden (was sachlich völlig korrekt ist) propagandistisch stärker zu betonen, um gerade bei der deutschen Bevölkerung größere Sympathien für die kurdische Sache zu wecken. Erst als ihm Deutschlandkenner klarmachten, dass ausgerechnet die typisch deutschen Unterstützergruppen dieser Idee aus grundlegendem Mangel an Sachkenntnis mit völliger Verständnislosigkeit begegnen würden, wurde der leicht skurrile Plan wieder aufgegeben.

In diesem Zusammenhang sollte auch der Begriff "semitisch" geklärt werden, den die Nazis genauso sinnentstellt benutzt haben. Das Semitische ist eine ebensolche Sprachfamilie wie das Indoeuropäische. Vom Ägyptischen und Sumerischen abgesehen, gehörten fast alle Sprachen des Alten Orients dieser Sprachfamilie an.
Wohlgemerkt, auch hier handelt es sich um einen rein sprachwissenschaftlichen Begriff, der abermals nicht das geringste mit Volk, "Rasse" oder Hautfarbe zu tun hat. Die heutigen semitischen Sprachen umfassen das Arabische mit all seinen Dialektausformungen, das eng verwandte Hebräisch und sogar eine europäische Sprache, das Maltesische, das auf die arabische Präsenz im mittelalterlichen Malta zurückgeht.

Was aber tat die manipulative Machtmaschine der Nazis? Sie setzte den Begriff "semitisch" mit "jüdisch" gleich, so wie sie "arisch" mit "germanisch" gleichgesetzt hatte. Auch das haben die Nazis zwar nicht erfunden, aber ebenfalls sprachlich zementiert. Dem Wissenschaftler sträuben sich dabei alle Haare, denn "semitisch" ist ein sprachwissenschaftlicher, "jüdisch" aber ein religionswissenschaftlicher Begriff. Beides hat nicht das geringste miteinander zu tun. Wenn z.B. ein deutscher Christ zum mosaischen Glauben übertritt, wird er zwar über Nacht zum Juden, dadurch aber noch lange nicht zum Semiten.
Und auch ein Jude ist nur dann Semit, wenn das Hebräische tatsächlich seine Muttersprache ist (was nur in Israel der Fall sein dürfte).

Auch die perfide Methode der Nazis, hierzulande zwischen "Deutschen und Juden" zu unterscheiden, ist hochgradig unsinnig. Nach dieser Logik müsste man hierzulande nämlich auch genauso zwischen "Deutschen und Katholiken" unterscheiden. In diesem Fall sieht jeder sofort die Absurdität der Unterscheidung, da die Staatsbürgerschaft bzw. die Muttersprache (deutsch) nichts mit der Religionszugehörigkeit (katholisch oder jüdisch) zu tun hat. Im ersteren Fall dürfte man also höchstens zwischen "Christen und Juden", nicht aber zwischen "Deutschen und Juden" unterscheiden, denn diese Juden hatten nicht nur dieselbe deutsche Staatsbürgerschaft, sondern waren auch mit derselben Muttersprache wie ihre christlichen Mitbürger aufgewachsen.

Diese Unterscheidungen sind keineswegs Haarspalterei, sondern von enormer Wichtigkeit. Wärend das Wort "Arier" verständlicherweise aus dem allgemeinen deutschen Sprachgebrauch verschwunden ist (übrigens im Gegensatz zu allen anderen Sprachen, wo der Begriff nach wie vor unbefangen im korrekten Wortsinn verwendet wird, was bei deutschen Linken stets zu gehöriger Irritation führt), wird der Begriff "semitisch" leider immer noch im Sinne der Nazis verwendet, wie der Ausdruck "antisemitisch" beweist. Menschen, auf die diese Bezeichnung angewandt wird, haben in der Regel aber nicht das geringste gegen Semiten, sondern schlimmstenfalls gegen Juden. Zwar unterscheidet man wissenschaftlich zwischen "antisemitisch" (rassistische Vorurteile) und "antijudaistisch" (religiöse Vorurteile), aber genau diese Unterscheidung ist nun gerade bei denen nicht angekommen, um die es hier geht. Betrüblich stimmt nämlich vor allem, dass gerade aufrechte und angeblich "antifaschistisch" gesinnte Zeitgenossen die Unterscheidung zwischen "Deutschen und Juden" während des Dritten Reiches sprachlich immer noch gedankenlos vollziehen, ohne zu merken, wie sehr sie ausgerechnet dadurch rassistische und rechtsradikale Denkmuster fortführen. Derartige Dummheit muss man zwar leider bei gewissen kleinen, aber politisch lautstarken Gruppen (sowohl linker wie rechter Indoktrination) voraussetzen, bei seriösen Veröffentlichungen oder Fernsehdokumentationen zum Thema fällt sie aber sehr unangenehm auf. Immerhin hat man sich im politischen Tagesgeschäft schon zu der Formulierung "Mitbürger jüdischen
Glaubens" durchgerungen. Aber auch in dieser Formulierung schwingt unterschwellig immer noch die Distanzierung zu "Deutschen" mit. Zumindest wäre die analoge Formulierung "Mitbürger evangelischen Glaubens" als Bezeichnung einer "ethnischen" Gruppe ziemlich unmöglich. In neuerer Zeit ist die Unterscheidung zwischen Serben und Muslimen im ehemaligen Jugoslawien aus genau denselben Gründen ebenso absurd.

Nach diesem düsteren, aber leider höchst notwendigen Exkurs wollen wir endlich wieder auf die Indoeuropäer selbst zurückkommen.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war man überzeugt, die indoeuropäische Sprachfamilie hinreichend zu kennen. Die nahe Zukunft sollte aber noch eine große Überraschung bereithalten. Im Jahre 1906 grub der deutsche Archäologe Hugo Winckler in einigen Ruinenhügeln bei dem winzigen Dorf Boghazköy im anatolischen Hochland herum und stieß dabei auf ein riesiges Archiv in Keilschrift verfasster Tontafeln mit einer bislang unbekannten Sprache, deren Entzifferung kurz darauf dem Tschechen Friedrich Hrozný gelang. Die Tafeln gaben Aufschluss über das sagenhafte Volk der Hethiter, das man vorher nur aus vereinzelten Bemerkungen der Bibel gekannt hatte. Seit kurzem wusste man zwar aus ägyptischen Funden, dass die Hethiter über Jahrhunderte das mächtigste Reich im Nahen Osten gebildet hatten. Aber wer diese Hethiter waren, und wo ihre Hauptstadt Hattuscha gelegen hatte, wusste bis dahin niemand zu sagen. Diese Hauptstadt hatte Winckler durch seine
Grabungen entdeckt, und er war auf Anhieb auf das Palastarchiv gestoßen.

Die Überraschung war groß, dass das Reich der Hethiter so weit nördlich im türkischen Hochland gelegen hatte. Man hatte es überall anders vermutet, nur nicht dort. Die größte Sensation aber war, dass die Sprache der Hethiter sich als reinstes indoeuropäisch entpuppte. Das Hethitische war damit die früheste, schriftlich belegte indoeuropäische Sprache. Die Sensation bestand aber nicht nur in der Entdeckung dieses Sachverhaltes, sondern auch in der Erkenntnis, dass indoeuropäische Völker in der Geschichte des Alten Orients offenbar kräftig mitgemischt hatten. Zuvor war man mit einer großen Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, dass es zwischen der Welt der Indoeuropäer und der hauptsächlich semitischen Welt des Alten Orients in so früher Zeit keinerlei Berührungspunkte gegeben hatte, dass beide Sprachfamilien wie in einem Vakuum nebeneinander existiert hatten. In dieser Frage musste man nun zutiefst umdenken.

Die bald darauf erfolgte Entdeckung der Hurriter und vor allem die Tatsache, dass Indoeuropäer auch bei deren Auftauchen im Alten Orient offensichtlich eine entscheidende Rolle gespielt hatten, war die nächste Überraschung.

Inzwischen sind auch die indischen Völker nicht mehr der östlichste Zweig der Indoeuropäer, sondern die Tocharer, ein Volk, von dem man nicht viel mehr weiß, als dass es eben auch dieser Sprachfamilie angehörte. Ihre Existenz und Sprache ist uns hauptsächlich aus buddhistischen Schriftquellen des 6. bis 8. Jahrhunderts n.Chr. bekannt. Sie waren entlang der Seidenstraße immerhin bis in die chinesischen Grenzgebiete vorgedrungen.

Die wissenschaftliche Entdeckung der Indoeuropäer ist ein Musterbeispiel dafür, was die Sprachwissenschaft in ihren Sternstunden zu leisten vermag. Herkunft und erstaunliche Details ihres kulturellen Lebens und sogar der Zeitpunkt ihres Zerfalls in Einzelsprachen konnte sehr zuverlässig erschlossen werden. Welche Routen die Indoeuropäer aber gezogen waren und wann genau sie in all den Ländern auftauchten, wo man sie heute noch vorfindet, das war mit sprachwissenschaftlichen Methoden allein nicht zu ermitteln. Diese Antworten erhoffte man sich nun von der Archäologie. Die Gründe, weshalb die Sprachwissenschaftler in dieser Frage überhaupt nicht und die Archäologen nur sehr schleppend vorwärtskamen, sind identisch: wir müssen bedenken, dass wir uns tief in der Frühgeschichte Europas befinden, also in einer Zeit, in der die Schrift noch völlig unbekannt war. Wenn aber keine Schriftfunde vorliegen (oder wenn man sie nicht entziffern kann), lässt sich eben nicht sagen, welche Sprache das Volk gesprochen hat, dessen Hinterlassenschaften man gerade untersucht. Natürlich kann die Archäologie auch bei schriftlosen Völkern eine große Zahl unterschiedlicher Kulturen dingfest machen. Anlage der Siedlungen, Bestattungssitten, typische Eigenheiten bei Schmuck, Waffen, Werkzeugen und vor allem bei der Keramik ermöglichen meistens eine klare Zuordnung zu bestimmten Kulturkreisen. Aber über die Sprache dieser Menschen sagt uns all das nichts. Und genau darum geht es in diesem Fall ja. Aber die Sache war nicht völlig hoffnungslos.

Die Archäologen richteten ihr Augenmerk deshalb verstärkt auf Anzeichen für einen kulturellen Wechsel, der als Indiz für das Einwandern einer neuen Bevölkerungsgruppe dienen konnte. Den fraglichen Zeitraum glaubte man auf die Zeit von ungefähr 2500 bis 1500 v.Chr. eingrenzen zu können. Zudem hatte die Sprachwissenschaft ja bereits einige kulturelle Eigenheiten der Indoeuropäer herausgearbeitet, die sich durchaus in archäologischen Spuren hätten niederschlagen können. Wir erinnern uns an die steinerne Streitaxt, das gezähmte Pferd und den Streitwagen.

Im östlichen und vor allem nördlichen Europa schienen nun tatsächlich einige verheißungsvolle Spuren aufzutauchen. Es war offensichtlich, dass in den Küstenregionen der Nord- und Ostsee in der Zeit zwichen ca. 4000 und 2000 v.Chr. Menschen gesiedelt hatten, denen wir die sogenannten Hünengräber verdanken. Aber nicht nur dort. Diese charakteristischen Großsteingräber, in denen ganze Generationen bestattet wurden, finden sich entlang der gesamten europäischen Atlantikküste bis in den Mittelmeerraum und nach Palästina hinein. Aus der Verwendung großer Findlinge bzw. Natursteinblöcke schloss man nun auf ein geheimnisvolles weiteres Volk, dem man gleichermaßen diese riesigen Grabanlagen, den Steinkreis von
Stonehenge, die Menhiren von Carnac in der Bretagne und die großartigen Tempel auf Malta zuschrieb. Darüber hinaus blieb das Wissen über die Erbauer sehr spärlich. Lediglich die Erkenntnis, dass sie sesshafte Ackerbauern gewesen sein müssen, glaubte man mit gewissem Recht postulieren zu können. Da ihre Kultbauten ausschließlich aus riesigen Natursteinblöcken bestanden, fasste man dieses Volk unter dem Begriff Megalithiker (von griechisch "Megalithos" = großer Stein) zusammen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts glaubte man nun entdeckt zu haben, dass diese "Megalithkultur" in Norddeutschland und Skandinavien um 2000 v.Chr. von einer gänzlich anderen Kultur durchdrungen wurde. Während die Megalithiker ihre Toten in Rückenlage in aufwendig errichteten Grabhäusern bestattet hatten, setzte sich nun die Bestattung in Einzelgräbern durch. Die Verstorbenen liegen auf der Seite in Hockerlage, d.h. mit angezogenen Knien. Die Skelette sind von deutlich anderem Typ. Während die Megalithiker einen breiten, fast quadratischen Schädel hatten, besaßen die Neuankömmlinge eine extrem schmale und lange Kopfform. Als Grabbeigaben fand man in vielen Fällen eine sorgfältig und fein gearbeitete steinerne Axt, die kaum als Werkzeug zum Fällen von Bäumen, wohl aber als Waffe im Nahkampf verwendbar war. Dieser Grabbefund schien so regelmäßig, dass schon früh der Begriff "Streitaxtleute" geprägt wurde. Es schien kaum einen Zweifel zu geben, dass die Indoeuropäer damit auch archäologisch nachgewiesen waren. Spuren des Streitwagens fanden sich in Nordeuropa nicht, aber das hatte einen einleuchtenden Grund. Der Streitwagen funktionierte nur in weiten Ebenen und offenen Steppen. In den waldreichen Gebieten Nordeuropas wurde er als Waffe offensichtlich früh aufgegeben, obwohl Nordeuropa keineswegs dem Klischee des undurchdringlichen, sumpfigen Urwaldes entsprach, dem auch Tacitus noch anhängt. Die Kelten z.B. benutzten den Streitwagen noch bis in das 2. Jahrhundert v.Chr. In Norddeutschland, Dänemark und Südschweden verschmolzen die Indoeuropäer angeblich mit den Megalithikern zu einem neuen Volk, das sich im folgenden ungestört von weiteren Zuwanderungen weiterentwickelt haben sollte und erst 2000 Jahre später mit einem Paukenschlag unter dem Namen Germanen wieder die Bühne der Weltgeschichte betrat.

Diese Theorie der Verschmelzung von Megalithikern und Ur-Indoeuropäern zu dem Volk der Germanen war fast das ganze 20. Jahrhundert hindurch anerkannte Lehrmeinung und wird auch heute noch in vielen Veröffentlichungen so dargestellt. Der einzige Schönheitsfehler daran ist, dass sie in ihrer Simplizität nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Es wäre ja auch zu schön gewesen.

Zunächst einmal musste man Abstand davon nehmen, die "Megalithiker" als EIN Volk zu sehen. Es stellte sich als unmöglich heraus, die Megalithgräber einer bestimmten Kultur zuzuordnen. Dazu ist sowohl ihre räumliche Verbreitung wie auch ihre zeitliche Einordnung viel zu groß. Sie decken sich auch weder zeitlich noch räumlich mit siedlungsarchäologisch nachgewiesenen Kulturen. Es gibt zwar archäologische Zeichen dafür, dass sich die Mode megalithischer Grabbauten vom Mittelmeerraum entlang der Atlantikküste bis nach Nordeuropa ausgebreitet hat, aber damit darf man nicht zwangsläufig die großflächige Wanderung eines ganz bestimmten Volkes verbinden. Es muss sich vielmehr um eine Bestattungsart gehandelt haben, die letztlich genauso kulturübergreifend gewesen sein muss, wie die Praxis der Erdbestattung oder Einäscherung, die an sich genauso wenig über bestimmte religiöse Vorstellungen sagt oder auf ein bestimmtes Volk reduziert werden kann. Die meisten Megalithbauten haben außer dem Baumaterial selbst auch keinerlei stilistische Übereinstimmungen. So gibt es z.B. nicht die geringsten Ähnlichkeiten zwischen einem norddeutschen Hünengrab, den kilometerlangen Steinreihen der Bretagne, den Tempeln
Maltas, dem irischen Newgrange und dem britischen Stonehenge. Und was die Entstehung der Germanen betrifft, wie sie uns in historischer Zeit entgegentreten, haben gerade die letzten zwanzig Jahre ein radikales Umdenken der Forschung und eine Verlagerung dieses Prozesses in weitaus jüngere Zeiten erbracht.

Im südlichen Mitteleuropa und auf dem Balkan ist die Spur der Indoeuropäer ebenfalls äußerst schwierig zu verfolgen, da sich in diesen Gebieten sehr viel mehr verschiedene Kulturen überlagert und überschnitten hatten. Diese Gegenden waren immer schon Durchzugsgebiet und Schmelztiegel gewesen. In Süddeutschland, vor allem an Mittelrhein und Donau, glaubt man indoeuropäische Kulturen ab 1800 v.Chr. nachweisen zu können. In Süddeutschland entwickelten sich die späteren Kelten, und von hier ging auch ab 1200 v.Chr. die indoeuropäische Besiedlung Italiens aus, die später zur Gründung des Römischen Reichs führen sollte. Zu der ersten Ankunft indoeuropäischer Stämme in Süddeutschland und vor allem auf dem Balkan gibt es allerdings noch viele ungelöste Fragen.
Zwei weitere Gruppen treten erst sehr spät in das Licht der Geschichte. Die Slawen und Balten. Von allen Indoeuropäern scheinen sich die Slawen am wenigsten von dem alten Ursprungsgebiet entfernt zu haben. Ihre Sprachentwicklung aber zeigt, dass sie vielfältigen Einflüssen anderer Völker ausgesetzt waren. Sie müssen noch lange Kontakt mit iranischen Sprachgruppen gehabt haben. Geschichtlich werden sie erst im frühen Mittelalter fassbar, als sie in die Räume Ost- und Mitteleuropas nachstoßen, in denen durch Abzug der Ostgermanen in der
Völkerwanderungszeit ein Vakuum entstanden ist.

Auf die Balten stößt man noch später, nämlich erst zu Zeiten der Ostkolonisierung durch den Deutschen Orden im 12. Jahrhundert n.Chr. Sie sind offensichtlich schon sehr früh in ihre jetzigen Wohnsitze gelangt und danach von allen Veränderungen der Weltgeschichte unberührt geblieben. Dafür spricht vor allem, dass das Litauische die urtümlichste indoeuropäische Sprache der Gegenwart ist. Obwohl man weiß, dass sie sich über einen gewissen Zeitraum zusammen mit dem Germanischen entwickelt haben muss, weist sie in Wortform, Lautstand und Grammatik noch die größten Ähnlichkeiten mit dem Ur-Indoeuropäischen auf, sogar noch mehr, als das höchst altertümliche Sanskrit.

Etwas besser sind wir über die Verhältnisse in Griechenland informiert. Spätestens ab 1800 v.Chr. lässt sich die indoeuropäische Einwanderung nachweisen, und in diesem Fall spielen auch die Streitwagen eine wichtige Rolle. Der Stamm der Achäer errichtet das Reich von Mykene, von dem uns die Lieder des Homer so anschaulich berichten. Obwohl sie erst später aufgezeichnet wurden, spielen die Geschehnisse der Ilias und Odysse vor dem Hintergrund der mykenischen Welt. Aber ab 1200 v.Chr. drängen andere, ebenfalls indoeuropäische Stämme von Norden nach. Es sind die Thraker und Illyrer, die sich auf dem Balkan festsetzen und bis zur Mittelmeerküste vorstoßen. Wie in einer Kettenreaktion geraten dadurch andere Balkanvölker in Bewegung, und der Druck auf den Süden verstärkt sich. Dieser Prozess, der unter dem Namen Dorische Wanderung bekannt ist, löste in ganz Griechenland und der Ägäis erhebliche Unruhen aus, und die gesamte frühgriechische Welt geriet in Bewegung. Wahrscheinlich hat sich auch der Trojanische Krieg vor dem Hintergrund dieser Geschehnisse abgespielt. Das Reich von Mykene und die letzten Reste der minoischen Kultur Kretas gehen in diesen Wirren unter.

Aber der Druck nach Süden setzt sich auch über das Meer fort, und über die Auswirkungen werden wir nun plötzlich aus orientalischen Quellen unterrichtet. Um 1200 v.Chr. fallen nämlich Völkerscharen in den Orient ein, die man dort als "Seevölker" bezeichnet, da sie über das Meer kamen. Ägypten kann den Angriff in einer dramatischen Seeschlacht abwehren, andere Völker haben weniger Glück. Das Reich der Hethiter bricht unter diesem Völkersturm vollständig zusammen, und etliche Küstenstädte im kanaanäischen Raum, darunter das berühmte
Ugarit, fallen in Schutt und Asche.

Lange ist über die Identität dieser "Seevölker" gerätselt worden. Heute wissen wir, dass sie aus dem ägäischen Raum kamen und dass ihr Erscheinen eine Folge der Dorischen Wanderung gewesen sein muss. Was wir nicht wissen, ist, ob es Indoeuropäer waren oder ob es sich um Teile der vorindoeuropäischen Bevölkerung handelte, die dem Druck der Indoeuropäer auswichen. Die offensichtlich guten seefahrerischen Kenntnisse sprechen eher gegen eine rein indoeuropäische Aktion, denn die sind für die frühen Indoeuropäer gerade nicht vorauszusetzen. Aber ein Gemisch beider Volksteile ist gut denkbar. Ebenso wenig sind wir über ihr weiteres
Schicksal informiert. Haben sie sich nach ihrem Einfall wieder zurückgezogen, oder sind sie mit der einheimischen Bevölkerung verschmolzen? Die letztere Möglichkeit ist wahrscheinlicher, denn aus den Abbildungen der ägyptischen Tempel, wo Einzelheiten ihres Einfalls dargestellt sind, wissen wir, dass es sich nicht um einen kriegerischen Beutezug, sondern um eine regelrechte Völkerwanderung mit Kind und Kegel gehandelt haben muss.

Nur über eines dieser Seevölker sind wir etwas besser informiert, da sie archäologisch fassbar sind und auch die Bibel einiges über sie zu berichten weiß: die Philister. Sie siedelten sich in unmittelbarer Nachbarschaft der frühen Israeliten an der Südküste Palästinas an, und der Name Palästina selbst leitet sich natürlich genau so auf sie zurück, wie noch die die heutige Selbstbezeichnung der Palästinenser ("Philisti"). Es spricht einiges dafür, dass sie Indoeuropäer waren. So ist der Zweikampf ausgewählter Krieger, der die Entscheidung in der Schlacht ersetzt, vor allem bei indoeuropäischen Völkern nachweisbar. Und genau ein solcher Zweikampf wird uns in der Geschichte von David und Goliath berichtet. Und das steht in den gesamten Quellen des Alten Orients als sehr vereinzeltes Ausnahmebeispiel da. Dem steht der seltsame Befund gegenüber, dass die Kampfausrüstung Goliaths, sein Helm und sein gepanzertes Hemd, im hebräischen Original mit Fachausdrücken aus der Sprache der geheimnisvollen Hurriter beschrieben wird (1 Sam 17,5). Leider wissen wir bis heute nicht, welche Sprache die Philister gesprochen haben. Deshalb muss diese Frage vorläufig offenbleiben.

Mit den Seevölkern sind wir nun in asiatische Gefilde gelangt und deshalb sollten wir noch kurz das Auftreten der indoeuropäischen Sprachen in diesem Weltteil beleuchten. Durch den frühen Gebrauch der Schrift im Alten Orient fließen hier die Quellen etwas reicher, als im zeitgleichen Europa.

Die bereits erwähnten Hethiter scheinen recht früh in Anatolien eingetroffen zu sein, wahrscheinlich schon gegen 2500 v.Chr. Sprachlich sichtbar werden sie uns zwar erst ab 1800 v.Chr., aber ihre eigenen Überlieferungen deuten auf eine längere Anwesenheit an der Südküste des Schwarzen Meeres hin. Und archäologisch spricht einiges dafür, dass die um 2200 v.Chr. entstehenden Kleinfürstentümer Anatoliens bereits hethitisch geprägt waren.
Ob die Hethiter über den Balkan oder über den Kaukasus nach Kleinasien gelangt sind, ist nach wie vor zweifelhaft. Der Weg über den Kaukasus ist aber die wahrscheinlichere Möglichkeit.

Die Indo-Arier müssen ab ca. 1500 v.Chr. in Indien und dem iranischen Hochland aufgetaucht sein. Das kann man mit großer Sicherheit aus dem geographischen und kulturellen Hintergrund schließen, den uns die älteste indo-arische Dichtung der Veden überliefert, obwohl sie erst sehr viel später aufgezeichnet wurde. In relativ kurzer Zeit besiedelten sie den ganzen Norden Indiens und drängten die Völker der dravidischen Sprachen in den Süden ab.
Diese sprachliche Verteilung hat sich im Grunde bis heute erhalten. Obwohl das Alt-Iranische, Awestisch genannt, uns ebenfalls erst aus späteren Schriftquellen bekannt ist, ist es dem Altindischen so eng verwandt, dass von einer gleichzeitigen Einwanderung der Indo-Arier in Indien und den Iran ausgegangen werden muss. Auch das Iranische teilte sich in Untergruppen, von denen das Kurdische und Afghanische heute die wichtigsten Varianten sind. Das Armenische gehört zwar geographisch ebenfalls dieser Region an, zählt aber nicht zu den indo-arischen Sprachen, sondern weist seltsamerweise etliche enge Parallelen mit dem Griechischen auf.

Auf ihrem Weg nach Indien und
Iran hat sich eine Gruppe der Indo-Arier offenbar von dem Hauptstrom abgetrennt und traf auf die (nicht-indoeuropäischen) Hurriter. Sie schwangen sich aber zur Führungselite der Hurriter auf, begründeten ein Königtum, und unter ihrem Kommando kam es zu dem folgenreichsten Auftritt der Hurriter im Alten Orient. Über die Hurriter war im Vergleich zu den meisten anderen Völkern des Alten Orients lange kaum etwas bekannt. Erst neueste Forschungsergebnisse und Ausgrabungen lassen erkennen, dass ihr kultureller und auch religiöser Einfluss auf alle Nachbarvölker - auch auf die frühen Isrealiten und die Inhalte des Alten Testaments - ungeheuer gewesen sein muss. Die Gründe und Mechanismen dafür sind noch weitgehend unentschlüsselt. Sicher ist aber schon lange, dass die Hurriter auch politisch in der Zeit ca. zwischen 1600 und 1300 v.Chr. neben den Ägyptern und Hethitern das mächtigste Volk der Region gewesen sind.

Auch bei den Kassiten, einem anderen Volk des Nahen Ostens, scheint es einen indoeuropäischen Einfluss gegeben zu haben. Das schließt man aus geringen indo-arischen Sprachresten in ihrer Sprache. Die Kassiten spielten in der Geschichte aber nur eine vergleichsweise winzige Nebenrolle und sollen uns deshalb hier nicht näher beschäftigen.

Wir sehen also, dass die Archäologie und auch die geschichtlichen Quellen einiges dazu beitragen konnten, die Erkenntnisse der Sprachwissenschaftler zu ergänzen. Aber es klafft noch eine große Lücke. Wir wissen immer noch nicht, wie die Ausbreitungswege der Indoeuropäer genau verliefen, bevor sie in ihren spätere belegten Wohnsitzen erschienen. Und vor allem hat uns die Archäologie noch nicht die Frage beantwortet, ob sie das vermutete Ursprungsgebiet gefunden hat. Die Antwort der Archäologen lautet: ja und nein.

In dem vermuteten Ursprungsgebiet zwischen Ostsee und Schwarzem Meer fanden die Archäologen nämlich eine große Anzahl von Einzelkulturen, die sich teilweise zeitlich und räumlich überschneiden, und in fast allen von ihnen könnte man mit einer gewissen Berechtigung die Relikte der ursprünglichen Indoeuropäer erkennen. Sie sind alle in den entscheidenden Zeitraum zwischen dem 5. und 4. Jahrtausend v.Chr. zu datieren. Andererseits gibt es in jedem Einzelfall auch ein paar Details, die nicht in das erschlossene Bild hineinpassen.

Würde man nun den Sprachwissenschaftlern vorwerfen, das durch sie erschlossenen Bild der indoeuropäischen Kultur könnte Fehler aufweisen, bekäme man zu Recht die Antwort, dass die Sprachwissenschaft inzwischen solch verfeinerte Methoden entwickelt hat, dass Irrtümer mit größtmöglicher Sicherheit herausgefiltert werden. Zudem kann sie - im Gegensatz zur Archäologie - auf komplett vorliegendes Material zurückgreifen, nämlich auf eben die verschiedenen Sprachen selbst. Doch auch die Archäologen stehen grundsätzlich nicht schlechter da. Ihnen fehlen zwar wichtige Teile des Puzzles, die Licht in diese Frage bringen könnten. Aber sie behaupten nichts, was sie nicht auch belegen können. Die Lage ist also überaus kompliziert, und von einer eindeutigen und endgültigen Antwort ist man noch weit entfernt.

Allerdings haben die Archäologen in den letzten 20 Jahren in dieser Frage gegenüber den Sprachwissenschaftlern erhebliche Punktverluste verbuchen müssen. Es hat sich nämlich anhand zahlreicher Präzedenzfälle herausgestellt, dass archäologische Methoden oft ungeeignet sind, Bevölkerungswechsel überhaupt wahrzunehmen. Als Beispiel dafür sei z.B. die keltische Einwanderung nach Irland genannt. Die Tatsache als solche steht außer Zweifel. Die archäologischen Belege für diese völlige keltische Überlagerung Irlands aber sind so vage, dass man bei der Frage nach dem "wann und wie" völlig im Dunkeln tappt. Das betrifft nicht nur Irland, sondern weitgehend die Keltisierung der gesamten Britischen Inseln. Auch die Völkerwanderungen des frühen Mittelalters, die ganz Europa in ein Chaos stürzten und die uns aus schriftlichen Quellen sehr genau überliefert sind, haben sich in archäologischen Funden kaum niedergeschlagen, jedenfalls nicht so, dass man ohne Kenntnis der Schriftquellen auch nur ein annähernd korrektes Bild darüber gewinnen könnte.

Solche Prozesse müssen eben nicht immer zwangsläufig mit einem völligen Wechsel der materiellen Kultur einhergehen. Das lange von der Archäologie vorgebrachte Argument, eine indoeuropäische Einwanderung sei immer dann abzulehnen, wenn sie nicht in Bodenfunden ablesbar ist, kann jedenfalls nicht mehr aufrechterhalten werden. Demgegenüber aber hat die Archäologie mit völlig neuen Theorien über kulturellen Austausch und vor allem sehr berechtigten Zweifeln an alten Konzepten von Ethnizität schlechthin gekontert.

Die derzeit einzig mögliche Lösung des Problems scheint in der Erkenntnis zu liegen, dass die Indoeuropäer bereits sehr früh über einen größeren Raum in Südrussland zu finden sind, und dass sich möglicherweise hier bereits verschiedene Dialekte und wohl auch Einzelkulturen herausgebildet haben können, die schon früh unabhängig voneinander waren. Und wenn sie sich überhaupt je ihrer gemeinsamen Herkunft bewusst gewesen sind, haben sie dieses Wissen wahrscheinlich schon früh verloren. Die Wunschvorstellung früherer Gelehrter, eine Urheimat der Indoeuropäer zu finden, die sich auf ein kleines und eindeutig begrenztes Gebiet sowie auf ein kleines und scharf umrissenes Volk beschränken lässt, erscheint aus heutiger Sicht etwas naiv.

Genauso differenziert muss ihre Ausbreitung betrachtet werden, für die es inzwischen ebenfalls eine Menge verschiedener und widersprüchlicher Modelle gibt. Auf keinen Fall darf man sich den Vorgang so vorstellen, dass sie wie auf Knopfdruck aus ihrer Urheimat auseinandergespritzt und wie ein Hunnensturm über den Rest der Welt hergefallen wären. Dieser Prozess zog sich über Jahrhunderte hin, und es ist mit zahlreichen Zwischenstationen und verschiedenen Wellen ihrer Ausbreitung zu rechnen. Möglicherweise sind sie so bereits auf ihrem Weg mit anderen Völkern verschmolzen, bevor sie in den Dunstkreis der Geschichte traten. Das ist besonders für ihr frühes Auftreten in Europa zu vermuten. Nach all dem sollte jedem klar sein, dass es in ganz Europa kein unvermischtes oder gar "reinrassiges" Volk gibt, wie immer man diesen Begriff auch verstehen mag.

Der Mann, dessen Gletschermumie man in den Tiroler Alpen fand und der als "Ötzi" bekannt wurde, könnte durchaus in jenen unruhigen Zeiten gelebt haben, in denen man das Eindringen der Indoeuropäer vermutet. Ob er einer von ihnen war, oder ob er der Bevölkerung Alt-Europas angehörte, die sich der Eindringlinge erwehren musste, wissen wir nicht, da wir seine Sprache nicht kennen. Aber auch wenn uns durch einen Glücksfall eine noch besser erhaltene Mumie beschert würde, würde uns das nicht weiter bringen, denn die äußere Erscheinung der ursprünglichen Indoeuropäer entzieht sich unserer Kenntnis. Entsprachen sie in etwa dem Typ des heutigen Südeuropäers oder waren sie blond und blauäugig? Die Grabfunde, die man in Nordeuropa den ersten Indoeuropäern zuordnen zu können meinte, zeigen einen ähnlichen Typus, wie man ihn heute noch in Norddeutschland und Skandinavien vorfindet. Die chinesischen Schriftquellen beschreiben die Tocharer als rotblond und "großnasig" (aber so werden alle Nicht-Chinesen bezeichnet), und auch Homer nimmt an einigen Stellen Bezug auf die blonde Haarfarbe seiner mykenischen Helden und Götter. Es kann sich in diesen Fällen aber um literarische Stilmittel handeln, die wenig über die Realität aussagen. Und seit die Propagandisten des Dritten Reiches den Mythos vom "blonden Arier" schufen, ist man mit Bemerkungen zu dieser Frage extrem vorsichtig geworden. Sie ist auch nicht weiter von Belang. Vergessen wir nie, dass es sich bei den Indoeuropäern um eine Sprachgemeinschaft und nicht etwa um eine "Rasse" handelt. Die Wichtigkeit dieser Unterscheidung hatten wir ja bereits hervorgehoben. Und seit dem Verschwinden des Neandertalers vor ca. 30000 Jahren gibt es definitiv nur noch eine menschliche "Rasse" auf diesem Planeten.

Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass wir bisher einen wesentlichen kulturellen Bereich der Indoeuropäer unerwähnt gelassen haben: ihre Religion. Das geschah aus gutem Grund, wir werden willkommenen Anlass haben, auf diesen hochinteressanten Aspekt in einem anderen Artikel zurückzukommen (siehe "Die germanische Religion in ihrem indoeuropäischen Zusammenhang", ebenfalls auf dieser Website zu finden). Soviel aber sollten wir jetzt schon wissen: so wie sich die Sprachen und kulturellen Eigenheiten der Indoeuropäer auf eine gemeinsame Wurzel zurückführen lassen, so verhält es sich auch mit ihren Religionen. Die römische ist mit der griechischen Religion fast identisch. Beide sind uns durch die antike Literatur gut überliefert. Vor allem die indische Religion liegt uns durch die sorgfältige Tradition des Hinduismus in mustergültiger Überlieferung auch ihrer ältesten Schichten vor. Und gerade diese älteste Schicht zeigt solch verblüffende Parallelen zu Details aus der
Edda, dass sie als große Hilfe bei offenen Fragen zur germanischen Religion dienen konnte. Zwischen der Niederschrift der indischen Veden und der isländischen Edda liegen nicht nur Tausende von Kilometern, sondern auch fast 2000 Jahre. Und dennoch erzählen uns diese Schriften von denselben Göttern und ihren Taten. Der skandinavische Thor und der indische Indra sind bis hin zu kleinsten Details identisch. Sehr viel weniger wissen wir über die ursprüngliche Religion der Kelten, Slawen und Balten. Aber das wenige, was wir wissen, zeigt dieselbe starke Urverwandschaft. Auch in diesem Bereich hat die Sprachwissenschaft in stiller, jahrzehntelanger Arbeit Entscheidendes geleistet, diesmal nicht nur von der Archäologie, sondern auch von der Völkerkunde und der vergleichenden Religionswissenschaft unterstützt. Es ist also keinesfalls verwegen, Material aus den indischen Veden, den Göttergeschichten des Griechen Hesiod oder der germanischen Edda als parallele und sich ergänzende Quellen zu präsentieren. All diese Quellen sind nämlich in hohem Maße identischer, als es den meisten Menschen bewusst ist.

Wo immer die Indoeuropäer einwanderten, scheinen sie sich als dominierende soziale Schicht durchgesetzt zu haben, was sich teilweise bestimmt ihrer militärischen Überlegenheit verdankte. Ob sie diese Überlegenheit auch immer ausspielen mussten, ist aber keineswegs sicher. Für Indien, Anatolien und Griechenland wissen wir von kurzen, aber heftigen Kämpfen gegen die einheimische Bevölkerung. In anderen Gegenden scheinen sie sich friedlich mit den Alteingesessenen arrangiert zu haben. In manchen Fällen ist überhaupt zweifelhaft, ob eine klassische Einwanderung erfolgt ist, oder ob der Sprachwechsel sich durch schleichende kulturelle Anpassung ergeben hat. Aber auch dort, wo sie nachweislich als kriegerische Eroberer auftraten, gingen sie nicht dazu über, die Urbevölkerung zu versklaven oder gar auszurotten. Im Gegenteil: nach einer Zeit der Kämpfe sind die Indoeuropäer regelmäßig mit den Kulturen, auf die sie trafen zu einem neuen Volk verschmolzen, und in diesem Prozess müssen beide Kulturen sowohl Gebende wie Nehmende gewesen sein. Ihre Sprache aber hat sich in allen Fällen gegenüber denen ihrer Vorgänger durchgesetzt.

Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist dieser Siegeszug der Indoeuropäer eine Katastrophe. Denn dadurch fehlt uns jede Kenntnis über die Sprachlandschaft Alt-Europas vor dem Auftauchen der Neuankömmlinge. Man vermutet, dass es ursprünglich zwischen zwanzig und vierzig verschiedene Sprachen in Europa gegeben hat. Von ganz wenigen haben wir ein paar rätselhafte Inschriften, die aber nicht ausreichen, um auch nur ein oberflächliches Bild von ihnen zu gewinnen, geschweige denn sie zu entziffern. Wir wissen von dem Iberischen und Tartessischen, auf dessen Reste man in Südspanien stieß, vom Etruskischen in der heutigen Toskana, vom Ligurischen an der heutigen Cote d'Azur und vom Minoischen auf Kreta. Einige dieser Sprachen müssen noch bis in die Zeit um Christi Geburt in Gebrauch gewesen sein. Von all den vermuteten vorindoeuropäischen Sprachen Europas hat einzig das Baskische in Nordspanien überlebt, das mit keiner anderen Sprache der Welt Verwandtschaft zeigt. Die anderen nicht-indoeuropäischen Sprachen Europas (finnisch/estisch, ungarisch und maltesisch) gehen auf spätere Einwanderungen zurück.

Aber die Sprachwissenschaft hat es mit ihren detektivischen Methoden wiederum geschafft, auch aus dieser hoffnungslos erscheinenden Situation noch einige Erkenntnisse zu gewinnen. Wir hatten in anderem Zusammenhang bereits die sprachlichen Entlehnungen erwähnt, die zwischen Nachbarvölkern stattfinden. Im vorliegenden Fall, wo zwei verschiedensprachliche Völker zu einem neuen verschmelzen, muss dieser Prozess sich natürlich noch viel drastischer auswirken. Die alte Sprache stirbt nicht einfach, sondern sie geht in der neuen auf und beeinflusst sie in vielfältiger Weise, nicht nur durch einzelne Wörter, sondern auch durch strukturelle und grammatische Eigenheiten. Der Sprachwissenschaftler nennt solch eine alte Schicht in einer Sprache "Substrat". Und solche Substrate sind in allen indoeuropäischen Sprachen vorhanden. Genau sie sind auch der Grund dafür, dass die indoeuropäischen Sprachen sich veränderten und so auseinanderentwickelten, dass sich heute ein Schwede nicht mehr problemlos mit einem Griechen verständigen kann. Durch solche Sprachreste - gerade bei den unglaublich zählebigen Berg- und Gewässernamen - wissen wir auch, dass das Baskische ursprünglich eine sehr viel größere Verbreitung gehabt haben und bis zu den Alpen gereicht haben muss. Wenn uns auch diese Substrate die Kenntnis der untergegangenen Sprachen selbst nicht zurückbringen können, so haben sie in einem speziellen Fall doch zu einem greifbaren Resultat geführt: bei den keltischen und in geringerem Ausmaß auch bei den germanischen Sprachen hat man starke strukturelle Parallelen zu den hamitischen Sprachen Nordafrikas festgestellt.
Da die Kelten - wie auch die Germanen - in den früheren Wohnsitzen der "Megalithiker" siedelten, lässt sich daraus die Vermutung ableiten, dass die vorausgehende Bevölkerung jener Gebiete sprachliche Verwandte der Berber gewesen sein könnten.

Das könnte sich mit dem archäologischen Befund decken, dem zufolge sich die Mode der Megalithgräber vom südlichen Mittelmeer aus über die spanische und französische Atlantikküste bis nach Nordeuropa ausgebreitet hat (ohne dass damit aber - wie schon gesagt - zwangsläufig die Wanderung eines bestimmten Volkes in großem Stil verbunden gewesen sein muss). Aber zu einer Rekonstruktion der Sprache verhilft dieses Wissen natürlich nicht. Wenn keine umfangreichen Schriftquellen existieren, ist eine erloschene Sprache unwiderbringlich verloren. Für die kulturelle Vielfalt der Menschheit ist das ein ebenso tragischer Verlust, wie das Aussterben einer Tier- oder Pflanzenart für die Natur.

Wenn nach all dem der Eindruck entsteht, die Ausbreitung der Indoeuropäer sei eine einzige Erfolgsgeschichte gewesen, ist das nur bedingt richtig. Im Alten Orient sind das Hethitische, das Phrygische und Luwische schon im Altertum ausgestorben. Als die Vorfahren der heutigen Türken im 6. Jahrhundert n.Chr. von ihrer ehemaligen Heimat in den chinesischen Grenzgebieten nach Westen wanderten, fiel ihnen mit Sicherheit das Tocharische und wahrscheinlich noch eine Reihe anderer indoeuropäischer Sprachen Asiens zum Opfer, die wir nie kennengelernt haben. Als sie im 12. Jahrhundert n.Chr. Anatolien erreichten, verdrängten sie das dort inzwischen heimisch gewordene Griechisch völlig. Kurz zuvor waren die Ungarn aus den Tiefen Russlands in ihren heutigen Wohnsitzen aufgetaucht, wo sie sich auch sprachlich durchsetzten. Wir wissen vom Gotischen, Thrakischen, Illyrischen, Oskischen, Umbrischen, Venetischen und weiteren indoeuropäischen Sprachen, die untergingen, deren Grundstruktur wir aber immerhin noch kennen. Ob sich das stark bedrängte Keltische wird halten können, das in Teilen der Britischen Inseln und der Bretagne überlebt hat, und vor allem in Irland staatlich sehr gefördert wird, kann nur die Zukunft zeigen. Die Chancen stehen nicht gut. Wir müssen darüber hinaus von einer Anzahl weiterer indoeuropäischer Sprachen ausgehen, die so früh und spurlos ausstarben, dass wir nicht einmal von ihrer Existenz wissen. Man sieht also, dass die Indoeuropäer nicht immer die Gewinner waren.

Seit ihrer Teilung in Einzelvölker und dem Zerfall ihrer Sprachen haben die Indoeuropäer ein so wechselhaftes Schicksal hinter sich, wie kaum eine andere Sprachgruppe. Sie haben Triumphe und Niederlagen erlebt, einige ihrer Völker gingen spurlos unter, andere bauten Weltreiche auf, die wieder zerfielen oder vom Reich eines anderen indoeuropäischen Volkes abgelöst wurden. Aber sie wanderten weiter, nicht nur durch die Kontinente, sondern auch durch die Zeit. Und keine andere Sprachfamilie hat ähnlich markante Spuren in der Geschichte der letzten Jahrtausende hinterlassen.

In Schulbüchern für das Fach Geschichte kommen die Indoeuropäer als solche nicht vor. Natürlich werden etliche ihrer Einzelvölker (wie Griechen, Römer, usw.) ausführlich behandelt, aber jeder Hinweis auf den gemeinsamen Ursprung aller Europäer und ihrer engen ursprünglichen Verwandtschaft mit den indischen und iranischen Völkern fehlt völlig. Das ist umso bedauerlicher, als im Zeichen einer neuen europäischen Einigungsbewegung das Wissen um die gemeinsame Herkunft aller europäischer Völker ein ungemein identitätsstiftendes gesamteuropäisches Bewusstsein erzeugen könnte, das nach Jahrhunderten europäischer Zerrissenheit und nationalstaatlicher Kleingeistigkeit gerade heute nötiger denn je ist. Vor über 5000 Jahren begann von einem begrenzten Gebiet aus die Wanderung und der Zerfall der Indoeuropäer. Ist es nicht ein schöner und irgendwie tröstlicher Gedanke, dass sich nach all den Jahrtausenden der Zersplitterung dieser Kreis durch das europäische Vereinigungsstreben nun wieder schließt?


**************************


Notiz:
Literatur
Fast alle Veröffentlichungen zur Indogermanistik sind Fachbücher für Sprachwissenschaftler, die sich hauptsächlich der extrem trockenen Formenlehre widmen, und die für interessierte Laien durchweg unvervständlich sind. Mir sind nur zwei Titel bekannt, und davon nur einer in deutsch, die dieses umfangreiche und komplizierte Thema allgemeinverständlich darzustellen versuchen:

Schmoeckel, Reinhard: Die Indoeuropäer, Aufbruch aus der Vorgeschichte.
Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe 1999

Mallory: In search of the Indo-Europeans. London: Thames & Hudson 1989

 

Verwandte Links

 

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· Das Symbol des Troth (S)
· Ostara - eine germanische Göttin? (S)
· Die Alte Sitte (S)
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Re: Die Indoeuropäer und ihre Entdeckung durch die Wissenschaft (Punkte: 1)
von Bjorgulf (bjorgulf@web.de) am Donnerstag, 07.März. @ 10:46:23 CET
(Userinfo | Artikel schicken) http://www.niflungen.de

Es handelt sich hierbei um den gleichen Artikel, wie in der dreiteiligen Version.

A possible Homeland of the Indo-European Languages

And their Migrations in the Light of the Separation Level Method


By Hans J. Holm

0. Most educated people know, what 'Indo-European' (IE) languages are: The many languages spoken between the northwest of Europe to the east of the Indian subcontinent, combined by their common inherited amount of lexemes (e.g. the system of counting or pronouns) as well as the grammar. For further reading see the literature in any library.

1. But, what is still under discussion, is the historical development of these languages, the stages of subgrouping. The main error in all* these discussions was and still is, that a higher amount of agreements meant a closer relationship. In IF 108/2003:39-47 Holm (see refs below) has shown, that this is not necessarily true, because of different developments after the separation of any language.

1.1. The result of this transformation then is the amount of features that really have been in common at the time of separation, the so-called 'separation level'. These figures, for the 91 pairs between 14 attested branches of IE, have been published in QL 7-2/2000:73-95 (see refs below).

1.2. These separation levels result in an unambiguous sequence of separations (not ´glottochronology´), which then can and should be applied to the different hypotheses of an original homeland/Urheimat of the speakers of Proto-IE/Gemein-Indogermanisch including the migrations and ending in their final establishment in the concrete geographical area.

1.3. Since most scholars assume a homeland in the steppes north of the Black Sea ('Pontus'), click >here for a slide show study of this first option. Note that neither this one, nor the dozens of other Urheimat/homeland hypotheses are in fact convincingly proven.
Some explanations to the maps: The abbreviations stand for the following IE language families: G(e)rm(anic), Kel=Celtic, Ita(lic), Bal(tic), Sla(vonic), Ill(yrian), Ph(rygian &) D(acian), Tok(harian), Ana(tolian), Alb(anian),Arm(enian), Ira(nian), Ind(o-Arian/ic), Gre(ek). The size of the circles has been chosen only to fit to these abbreviations, not to represent any extension of the language. The application of the language indications from the very beginning are not intended to mean that those people spoke this language since their first separation and than 'conquered' their final homeland; remember that France was not conquered by a 'French speaking' community at all.
Translations of prehistorical cultures, given in Roman Light letters: Trichterbecher(kultur)~Funnelneck Beaker; Schnurkeramik ~ Corded Ware; Früh-Bronzezeit ~ Early Bronze Age.

2. By projecting backward from the safe grounds of Hittite historical data, it seems clear that the IE expansion roughly parallels the adoption of the bronze metallurgy, of draughthorses and wagons, and mounded graves (burial hills). That does not mean that Indo-Europeans invented these techniques; but made best/extensive use of them. The century figures in the last slides are working hypotheses. Better results are hampered by the inability of many researchers to assess the different time data (morphological : C14 : calibration source). The migrations could have happened in quite fewer centuries or somewhat former as well.

3. Another point of disagreement and discussion is the question whether the so-called Anatolian languages, in particular Hittite,
- were full members of Proto-IE
- or the latter have achieved their complete development only after the separation of Hittite.
a) In general, it is a misunderstanding that lexicostatistical methods could speak in favour of one or the other hypothesis: Many cladistic researchers just assume a priori that Hittite has not shared the final development of IE, and therefore can use this language as a so called 'outgroup' to define the starting point of their originally unrooted graph, not vice versa!
b) Taking into account the separation levels with all other branches, it seems that the Anatolian languages have been left over as a central rest. I am working on a special model to prove or falsify the so-called 'Indo-Hittite Hypothesis'.

4. All these present-day nonsense computations of mathematicians rest on the erroneous assumption that languages change like (though admittedly different) clocks 'by' time, what is obviously wrong, a rehash of the obsolete glottochronology: Look up any word in an etymological dictionary and find the reason for its existence: it will never be 'time', but historical and cultural events or technical inventions, which nobody ever can foresee = compute: E.g. English did not replace about 50 % of its vocabulary 'by time', but, as educated speakers of English should know, by Norman rule. Journalists can not be accused for not understanding what really is going on in these computations. But it is ridiculous and sad that scholars are not accessible to such basic knowledge of the causalities in language change.
--------
*including the old comparatistic or newest cladistic approaches!

 
4. References:

  
-QL =  Holm, Hans J.: Genealogy of the Main Indo-European Branches Applying
  the Separation Base Method. In: Journal of Quantitative Linguistics;
  7-2/2000:73-95. 
 
  [ABSTRACT: In earlier quantitative analyses of genetic relations
  between languages the stochastic bias caused by replacements was
  not properly eliminated, which only could lead to wrong results.
  Only now, owing to N. Bird's (1982, Distribution of Indo-European
  root morphemes, Wiesbaden: Harrassowitz) count of the huge database
  of the Indogermanisches etymologisches Wörterbuch (J. Pokorny, 1959,
  Bern: Francke) it was possible, in spite of it's known shortcomings,
  to compute the number of lexemes at the era of separation for any
  pair of languages, by means of a robust estimator. The results allow
  to infer a sequence of separation.  The customary black and white
  hypotheses, e.g. pro or contra an Italo-Celtic relationship, cannot
  do justice to the real developments and must give way to this more
  differentiated overall view].


- Holm, Hans J. & Embleton, Sheila: Review of 'Mathematical foundations
  of Linguistics' (by Hubey, H.Mark, 1999, LINCOM handbooks in Linguistics
  10, Muenchen: LINCOM); In: Journal of Quantitative Linguistics
  8-3/2001.

- IF =  Holm, Hans J.: The proportionality trap, Or: what is wrong with
  lexicostatistical subgrouping? In: Indogermanische Forschungen 108/2003:
  39-47. 
 
  [ABSTRACT: It is shown that the raw amount of agreements (e.g. cognate
  numbers) between any two languages can never proportionally express
  their degree of genealogical relationship. It is demonstrated how
  the original amount of innovations and further the correct
  subgroupings can be recovered].


Indoeuropäisch (auch indogermanisch genannt). ist der Name einer Sprachfamilie, die sich zunächst über Europa und weite Teile Südasiens ausbreitete und deren Abkömmlinge heute aufgrund des Kolonialismus auf der ganzen Welt zu finden sind.

Die indoeuropäischen Sprachen werden (vor allem wegen der weltweiten Bedeutung des Englischen) von mehr als zwei Milliarden Menschen gesprochen und bilden damit die am weitesten verbreitete Sprachfamilie der Welt.

Die (meist als proto-indoeuropäisch bezeichnete) Elternsprache wurde vermutlich vor dem Jahr 3000 vor Chr. gesprochen und hat sich im Lauf des 4. bis 2. Jahrtausends schrittweise in verschiedene Sprachen aufgespalten. Dieser Prozeß war jedenfalls zu der Zeit, aus der die frühesten schriftlichen Dokumente der griechischen, anatolischen und indo-iranischen Sprachen stammen, im wesentlichen schon abgeschlossen, also spätestens zwischen 2000 und 1000 v. Chr.

Dabei verlief die Entwicklung in den einzelnen Regionen durchaus unterschiedlich. Als die “Balkansprachen” (also z.B. Tocharisch und Hethitisch) schon längst ausdifferenziert waren, sich also bereits zu eigenen Sprachen entwickelt hatten, bildeten die westindogermanischen Sprachen (also z.B. Italisch, keltisch, germanisch) noch immer ein Kontinuum, also einen einheitlichen Sprachraum.

Das Verhältnis der Sprachen zueinander, ihre Verwandtschaft miteinander und  vieles andere lassen sich auf verschiedene Weisen darstellen. Eine der bekanntesten - und auch anschaulichsten - Methoden bildet ein Sprachbaum, wie er auch auf anderen Gebieten entsprechende Anwendung findet.

Dabei stellt der Stamm die indogermanischen Ursprache dar, die  vor rund 6.000 Jahren gesprochen wurde. Diese Ursprache hatte - wie heutige  Sprachen auch - verschiedene Dialekte, aus denen sich im Laufe der Zeit die unterschiedlichen Sprachen (Äste) entwickelten, die sich im Laufe der Zeit ihrerseits in Generationen von Tochtersprachen (Zweige) spalteten. 

Dieser Stammbaum - so einfach das Modell auch ist - verdeutlicht sehr anschaulich

      • die Herkunft einer Sprache,
      • ihre Entwicklung,
      • den Grad ihrer Verwandtschaft zu anderen Sprachen,
      • die zeitliche Reihenfolge ihrer Abspaltung von der jeweiligen Hauptsprache,  sowie
      • schematisch die ungefähre geographische Lage der Sprache in Eurasien.

Die indogermanische Sprachfamilie hat folgende Zweige und Unterfamilien, wobei nur die wichtigsten aufgeführt sind (+ bedeutet ausgestorbene  Sprachen).

Genauere Angabe, auch bzgl. der Lage und Verbreitung der einzelnen Sprachen, ergeben sich aus dieser Sprachenkarte.  (Durch Klicken auf die Karte erscheinen Detail-Vergrößerungen).

Innerhalb der indogermanischen Sprachfamilie sind einige Sprachen enger  miteinander verwandt, als es die Grafik vermuten läßt (wohl aufgrund gemeinsamer Geschichte).

 

 

 

Indogermanisch

Keltisch

Italisch

Germanisch

Balto-Slawisch

Griechisch

Indo-Iranisch

+ Anatolisch

 

+ Latein

 

 

Albanisch

 

+ Hethitisch

Schottisch

Italienisch

Englisch

Baltisch

Slawisch

Armenisch

Indisch

Iranisch

+ Luwisch

Irisch

Spanisch

Deutsch

Litauisch

Russisch

+ Tocharisch

 

 

die obigen altanatolischen Sprachen sind ausgestorben. Das heutige Türkisch gehört zu den Altaischen Sprachen

Walisisch

Portugies.

Niederländ.

Lettisch

Polnisch

die obigen 4 Sprachen sind selbständige Sprachen ohne eine Unterfamilie

+ Sanskrit

+ Avestisch

Bretonisch

Französisch

Dänisch

 

Tschechisch

 

 

 

Provenzalisch

Norwegisch

 

Bulgarisch

Hindi/Urdu

Persisch

 

Rumänisch

Schwedisch

 

Serbisch/ Kroatisch

Bengali

Pashtu

 

Rätoroman.

Isländisch

 

 

Punjabi

Kurdisch

 

 


Erforschung

Daß viele Sprachen Europas sehr große Ähnlichkeiten miteinander aufweisen, war den Menschen schon vor vielen Jahrhunderten aufgefallen. Es war offensichtlich, daß z.B. Französisch, Spanisch, Italienisch und die anderen romanischen Sprachen eindeutig auf das Lateinische zurückgehen. Dies ergab sich nicht nur (indirekt) aus der Ähnlichkeit Tausender von Wörtern der romanischen Sprachen mit der lateinischen Ursprungssprache, sondern auch (direkt) aus der reichhaltig vorhandenen, lückenlosen Literatur, die ohne Unterbrechung bis in die römisch/lateinische Zeit/Sprache zurückreichte.

SanskritAls man jedoch im Rahmen der Kolonisierung Indiens durch die Engländer feststellte, daß auch viele Dialekte Indiens und vor allem die “heilige Sprache” Sanskrit ganz frappierenden Ähnlichkeit mit vielen europäischen Sprachen aufwies, begann man mit gezielten Forschungen.

Die Erkenntnis und die Nachweise, daß diese äußerst unterschiedlichen Sprachen Mitglieder einer einzigen Familie sind, wurden im Wesentlichen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesammelt. Der umfangreiche Bestand an Literatur in Sanskrit und Altgriechisch (den damals ältesten Schriftzeugnisse einer indogermanischen Sprache) zeigt typische Züge der grundlegenden indogermanischen Formen auf und beweist eine gemeinsame Ursprache.

Denn wenn mehrere Sprachen Ähnlichkeiten aufweisen, die ganz signifikant (um den Faktor 100 oder 1.000) über das Maß hinausgehen, mit dem nach den Grundsätzen der Wahrscheinlichkeit zu rechnen ist, mußten sie miteinander verwandt sein, also von einer vielleicht nicht mehr existierenden gemeinsamen Ursprache abstammen.
Forscher

Bereits seit dem 1. Drittel des 19. Jahrhunderts war die enge Verwandtschaft zwischen Sanskrit, Altgriechisch und Latein erwiesen. Frühe Sanskrit-Grammatiker hatten die Bestandteile ihrer alten Sprache systematisch klassifiziert. Zu diesen Arbeiten kamen umfassende grammatikalische und phonetische Vergleiche europäischer Sprachen. Aus zahlreichen Untersuchungen konnten genauere Schlussfolgerungen hinsichtlich Lautung und Grammatik der angenommenen Ursprache (Protoindogermanisch) gezogen werden, so dass man zur Rekonstruktion einer hypothetischen Sprache und zu Schätzungen ihrer Aufspaltung in verschiedene Sprachen gelangte.

Heute ist bewiesen, daß Griechisch, Hethitisch und Sanskrit bereits um 2000 v. Chr. als eigenständige Sprachen existierten. Die Merkmale, durch die sie sich unterscheiden, deuten jedoch darauf hin, daß ungefähr 1000 Jahre vorher, also um 3000 v. Chr., noch eine einheitliche Ursprache existiert haben muß.

Zu den heutigen Erkenntnissen hinsichtlich der Entwicklung und des Charakters des Indogermanischen gelangte man schließlich, als die Entzifferung der hethitischen Texte gelang (die erst 1915 als indogermanisch identifiziert wurden) und durch die Entdeckung des Tocharischen, einer Sprache, die im Mittelalter im chinesischen Teil Turkestans gesprochen und 1908 als indogermanisch identifiziert wurde.

Entwicklung der Indogermanischen Sprachen

Die Weiterentwicklung der indogermanischen Sprachen ist ganz allgemein und bis in die jüngste Zeit (praktisch bis in die Gegenwart) vor allem von einem ständigen Verfall der Flexion gekennzeichnet.

Man ist sich sicher, daß die indogermanische Grundsprache stark flektierend war, da es auch die sehr alten Sprachen wie Sanskrit, Avestisch und Altgriechisch sind.  Der Formenreichtum war dabei fast ünüberschaubar: Es gab

  • 3 Genera (Maskulinum, Femininum, Neutrum
  • mindestens 8 Kasus: Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Vocativ, Lokativ, Instrumentalis, Ablativ  - evt. als 9. Fall den Allativ (in griech. Verben noch greifbar)
  • Auch das Verbsystem besaß zahlreiche Formen, die wir im Deutschen heute nicht mehr kennen - erst recht nicht im Französischen und schon gar nicht im Englischen -  und die auch die klassischen Sprachen (Altgriechisch, Latein) zum Teil bereits verloren hatten: Formen für Aspekt, Modus, Tempus, Genus, Person und Numerus, usw.
  • verschiedene grammatikalische Formen eines Wortes wurden oft durch Ablaut (= Vokalwechsel) gekennzeichnet: Der Wurzelvokal änderte sich systematisch, um Kontraste wie Singular und Plural oder Präsens und Präteritum  anzuzeigen, wie es im Deutschen noch heute häufig geschieht, etwa bei Mutter/Mütter oder gehen/ging.

Im Vergleich dazu haben  relativ moderne Sprachen wie Englisch, Französisch und Persisch Flexionen weitgehend abgebaut und sich unter Zuhilfenahme von präpositionalen Konstruktionen und Hilfsverben zu einer analytischen Bauweise hin entwickelt. - Die deutsche Sprache nimmt in diesem Rahmen etwa eine Mittelstellung ein.

Der Flexionsverfall ist im Wesentlichen dadurch entstanden, daß im Lauf der Zeit viele Wörter ihre Endsilben verloren haben, z.B. wegen ungenauer Aussprache der Endsilben beim schnellen Sprechen bzw. im Rahmen der Vereinfachung bei Sprachkontakten und allgemein beim Erlernen einer Sprache.

Generell gilt:

  1. Moderne Wörter der indogermanischen Sprachen sind deshalb meist wesentlich kürzer als ihre Vorfahren in der Ursprache. Sie haben insbesondere den größten Teil der (teilweise sehr umfangreichen) Endungen verloren.
  2. Zum Ausgleich haben zahlreiche Sprachen neue Formen (insbesondere Hilfsverben, wie sein und haben) und grammatikalische Unterscheidungsmerkmale (insbesondere Präpositionen) ausgebildet.

Beispiel:

Infinitiv

 

Stamm

Beispiel: wir haben geliebt, usw. (1. Pers. Plural, Indik. Perf. Aktiv)

Latein

laud-are

loben

laud-

lauda-vimus

vi = Perfekt; mus = wir (1.Pers.Plural)

Altgriechisch

paideu-ein

erziehen

paideu-

pe-paideu-kames

ka = Perfekt; mes = wir (1.Pers.Plural)

Deutsch

lieb-en

 

lieb-

wir haben
ge-liebt

In diesen modernen indoeuropäischen Sprachen hat das eigentliche Verb fast sämtliche Endungen verloren und besteht (bis auf das Endungs-t im Deutschen) nur noch aus der Grundform (die im Frz. zwar anders geschrieben, aber schon seit Jahrhunderten genauso ausgesprochen wird wie die Grundform). - Die Funktion der Endungen haben die Hilfsverben und Pronomina übernommen.

Französisch

chant-er

singen

chant-

nous avons
chant-é

Englisch

love

lieben

love-

we have
love

Näheres hierzu (ausführlich)  hier

Die europäische “Sprachenlandschaft” ist relativ homogen, vor allem im  Vergleich zu anderen Sprachräumen (vgl. die ungeheuere Sprachenvielfalt des Kaukasus und vor allem der Südsee).

Im europäischen Sprachraum gibt es im wesentlichen nur

  • eine einzige lebende vor-indoeuropäische Sprache: Baskisch (diese wird hier vorgestellt), und nur
  • eine einzige nicht-indoeuropäischeSprachfamilie, zu der das Finnische und das Ungarische gehören (auf das Finno-Ugrisch wird hier eingegangen).
  •  
 

Verbreitungsraum indogermanischer Sprachen und Dialekte



Abb. aus: KÖNIG, Werner (1996): dtv-Atlas zur deutschen Sprache. 11. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (= dtv. 3025.), S. 40.

 

Sprachen der indogermanischen Sprachfamilie haben sich auch in Nord-, Mittel- und Südamerika sowie in Australien ausgebreitet. In der Statistik der Sprachen der Welt nimmt das Deutsche mit ca. 110 Millionen SprecherInnen (mit Dt. als Muttersprache) Platz 10 ein. Ganz oben sind die idg. Sprachen Englisch (2. Rang) und Spanisch (3. Rang).